Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Tagebuch - Seiten des Lebens
Pexels/Pixabay

Tagebuch - Seiten des Lebens

Dr. Ursula Schoen
Ein Beitrag von Dr. Ursula Schoen, Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt
Beitrag anhören:

Die alte Dame schaut sehr entschlossen, als ich die Tür zu ihrem Zimmer öffne. Ein Stoß mit kleinen Heften liegt vor ihr. Daneben ein Stapel mit losen Blättern. Sie erzählt mir: „Das sind meine Tagebücher. Ich habe seit meiner Hochzeit Tagebuch geführt. 55 Jahre lang.“ Sie hält kurz inne, dann spricht sie weiter: „Mein Mann ist vor kurzem gestorben, da will ich nicht mehr weiterschreiben. Jetzt schaue ich noch einmal auf diese Zeit zurück. Leicht war es nicht immer. Darum reiße ich einige Seiten heraus. Meine Kinder brauchen wirklich nicht alles zu wissen.“ Wieder schaut mich die alte Dame sehr entschlossen an.

Tagebücher sind etwas sehr Persönliches

Das hat mich danach länger beschäftigt. Natürlich: Tagebücher sind etwas sehr Persönliches. Man schreibt Gedanken und Gefühle auf, die vor allem für einen selbst wichtig sind. Glückliche Momente und schwere Erfahrungen. Verletzende Erlebnisse und schöne Begegnungen. Und vielleicht auch die eine oder andere Romanze, die nur einem selbst gehört hat.

Eltern sprechen nicht über alles mit ihren Kindern

Aber es gibt auch die andere Seite: Ereignisse, von denen die Kinder nichts wissen, die aber Bedeutung für ihr Leben haben. In meiner Generation betrifft das vor allem die Zeit des Kriegs und der Nachkriegszeit. Viele Eltern haben nie über ihre Fluchterfahrungen als Kinder gesprochen oder über den kriegstraumatisierten Vater. Das hat sie geprägt. Vielleicht würden ihre eigenen, längst erwachsenen Kinder manches besser verstehen, wenn sie davon erfahren würden.

Müssen Kinder alles wissen?

Wie viel müssen, wie viel sollen Kinder über das Leben ihrer Eltern wissen? Die alte Dame hat das sehr deutlich entschieden. Sie reißt viele Seiten aus ihren Tagebüchern heraus, damit ihre Kinder später nicht lesen, was sie ihnen nicht mitteilen wollte. Sie will die Erzählerin ihrer Geschichte bleiben.

"Es hat sein Gutes, dass ich nicht alle Seiten des anderen kenne"

In allen unseren Beziehungen leben wir mit den offenen und den verborgenen Seiten der Menschen, mit denen wir verbunden sind. Ich habe im Laufe der Zeit immer mehr schätzen gelernt: Es hat sein Gutes, dass ich nicht alle Seiten des anderen kenne. Ich muss nicht alles wissen. Es entlastet mich, wenn einige Seiten verborgen bleiben.

Die alte Dame hat selbst dafür gesorgt, dass ihre Kinder durch ihre Geschichten nicht belastet werden. Sie hat ihnen gewissermaßen die Freiheit geschenkt, sie selbst zu sein.

„Aus Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“

In der Bibel schreibt Paulus in einem seiner Briefe: „Aus Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“ (1. Korinther 15,10) Ich übersetze das für mich: Der Verlauf meines Lebens wird nicht allein durch die Geschichte meiner Eltern bestimmt. Gott selbst hält das Leben zusammen, mein Leben und das Leben der Menschen um mich. Mit seinen offenen und seinen verborgenen Seiten. Gott gibt ihm Anfang und Ende, Richtung und Ziel.

Wir Nachgeborenen, Kinder und Enkel, sind frei, unsere eigenen Geschichten zu leben und zu formen. Und eines Tages werden wir entscheiden, welche Geheimnisse wir mit ins Grab nehmen.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren