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Abstandshalter
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Abstandshalter

Stefanie Sehr
Ein Beitrag von Stefanie Sehr, Katholische Pastoralreferentin, Darmstadt
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„Wie gerne würde ich dich jetzt mal in den Arm nehmen und drücken!“ Diesen Satz habe ich so oder so ähnlich oft gehört in den letzten Monaten und auch selbst gesagt. Seit Mitte März gibt es die Abstandsregeln, die verhindern sollen, dass sich das Corona-Virus ungebremst ausbreitet. Nicht nur ich habe gemerkt, wie sehr mir auch körperliche Berührungen und Gesten wichtig sind und auch gut tun. Wenn sie völlig wegbleiben, wird deutlich: Wir Menschen leben nicht nur von guten Worten, sondern vor allem auch von körperlichem Kontakt und zärtlicher Berührung. Aber manchmal ist auch Abstand genau das Richtige.

Abstand halten und Würde wahren

In den letzten Monaten kam mir immer mal wieder eine Situation in den Sinn, die ich schon vor fast zehn Jahren erlebt habe: Da habe ich ein Praktikum in einer Psychiatrie gemacht. Mit dem Pfleger, bei dem ich hospitiert habe, war ich in der Umgebung der Klinik spazieren. Es hat gut getan, mal rauszukommen und in einem schönen kleinen Park über Eindrücke zu sprechen. Auf dem Rückweg zur Klinik passierte es dann: Wir haben eine Patientin an der Straße gesehen, die langsam beginnt, ihre Kleidung auszuziehen. Ich habe einen Schreck bekommen – da müssen wir doch etwas tun! Aber der Pfleger bleibt ganz gelassen und sagt nur: „Wir tun doch was – wir halten Abstand.“

Auch, wer Abstand hält, handelt

Das war natürlich überhaupt nicht die Reaktion, die ich erwartet hatte. Noch heute erinnere ich mich daran, wie sehr mich dieser Satz irritiert hat. Gleichzeitig hat er auch Recht: Mit Abstandhalten haben wir ja tatsächlich etwas getan. Er hat mir auch erklärt, dass er dieses Verhalten der Patientin schon kennt und sich natürlich auch um sie gekümmert wird. Was er mir aber verdeutlichen wollte: Auch Distanznehmen ist eine Handlung und eine Haltung.

Distanz kann Gemüter beruhigen

Nun sind wir seit ein paar Monaten dazu gezwungen, zu anderen auf Distanz zu gehen, auf Abstand zu bleiben. Das fällt nicht immer leicht, und es ist gerade auch im Kontakt mit Kindern schwierig. Für sie kann Körperkontakt besonders beruhigend wirken. Auch bei uns Erwachsenen ist das im Prinzip noch so. Gleichzeitig gibt es beim Distanzhalten noch eine zweite Perspektive: Ich kann auch bewusst zu etwas oder jemandem Abstand nehmen. Vielleicht, weil mir die Person nicht gut tut, meine Grenzen nicht beachtet. Wenn ich merke, ich bin gerade mit jemandem so im Konflikt, dass es total emotional geworden ist und klar wird, dass wir nicht mehr sachlich miteinander sprechen können. Auch da hilft es, einen Augenblick Abstand zu nehmen, vielleicht sogar nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich: indem wir fünf Minuten Pause machen, in unterschiedliche Räume gehen und uns sammeln, bevor wir weiter disputieren. Mit der Irritation, der Veränderung, kommt neuer Schwung.

Perspektivewechsel schenkt Erkenntnisse

Mal bewusst auf Abstand gehen, die Perspektive wechseln – das ist mir sogar im Glauben wichtig. Ich denke sogar: Der Glaube ist eine Art Abstandshalter: Weil ich glaube, dass die Welt aus mehr besteht als aus Materiellem. Manchmal tut es gut, die Dinge und Menschen auf Abstand zu halten. Um zu sehen: Was ist wirklich wichtig, welchen Sinn gibt es.

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