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Nur ein Mensch

Nur ein Mensch

Stephan Krebs
Ein Beitrag von Stephan Krebs, Evangelischer Pfarrer, Langen

Heute Morgen noch 4. Advent, heute Nachmittag dann schon Weihnachten. In diesem Jahr geht die Adventszeit besonders schnell zu Ende. Viele waren in Hektik und Geschenke-Stress. Dabei steckt hinter den Geschenken eigentlich etwas Wunderschönes. Denn ein persönliches Geschenk sagt etwas ohne Worte: „Du bist mir wichtig, ich mag dich.“ Oft sogar: „Ich liebe dich.“ Was Menschen für einander empfinden, sprechen sie selten aus: Wertschätzung, Hochachtung, Zuneigung. In den Geschenken ist es mit verpackt.

Deshalb habe ich habe einen Tipp für alle, denen der Advent zum Geschenkekaufen zu kurz war: Kommen Sie direkt zur Sache. Schreiben sie denen, die sie beschenken möchten, einfach, was sie für sie empfinden. Dafür ist noch Zeit. Schreiben Sie es besser nicht als SMS oder Email, sondern auf Papier, mit der Hand. Auch wenn ihre Schrift inzwischen krakelig geworden ist, weil sie kaum noch mit der Hand schreiben. Gerade das macht ihre Worte glaubwürdig. Und ehrlich. Darin zeigen sie sich persönlich.

An Weihnachten darf man das: sich menschlich zeigen. Das bedeutet: verletzlich und gefühlvoll – ja, sogar fehlerhaft. Darum geht es doch am Weihnachtsfest: Einander menschlich zu werden. Gott hat es vorgemacht. Er kommt in Jesus auf die Welt – klein und schutzbedürftig. Geboren in einem Stall bei Bethlehem. In diesem Menschenkind hat sich Gott der Welt ausgesetzt. Obwohl sie oft so unmenschlich ist, grausam und kalt.

Nein, nicht obwohl, sondern weil sie so ist. Denn umso mehr braucht sie die Liebe Gottes. Deshalb macht sich Gott auf den Weg zu den Menschen. Er lockt Hirten und Könige herbei und bezaubert sie. Die rauen Gesellen vom Feld genauso wie die feinen Herren aus ihren Palästen. Alle können zum Jesuskind kommen. Mit ihren Sorgen und ihren Sünden, mit ihren Fehlern und ihren Freuden. Alle sind eingeladen, mit dem Jesuskind im Stall ein Fest zu feiern. Dort erleben sie allerdings keine durchgestylte Weihnachtsfeier. Im Gegenteil, sie nehmen teil an einem improvisierten Fest der zerbrechlichen Menschlichkeit.

Um diese zerbrechliche Menschlichkeit geht es auch in einem aktuellen Popsong. Ich finde, er ist ein modernes Weihnachtslied. Sein Titel lautet: „Human“, also Mensch oder menschlich. Seine ersten Zeilen lauten übersetzt so:

„Vielleicht bin ich dumm, vielleicht bin ich blind, wenn ich denke, ich könnte da durchblicken und sehen, was dahinter steckt. Hab keine Möglichkeit, es zu überprüfen. Kann also sein, dass ich blind bin. Denn am Ende bin ich doch auch nur ein Mensch.“

Musik: aus „Human“ von Rag ’n’ Bone Man 

Was für eine starke, schwache Stimme! Sie gehört zu Rory Graham, er ist 32 Jahre alt und stammt aus Südengland. Bekannt gemacht er sich allerdings unter seinem Künstlernamen: Rag ´n´ Bone Man. Das bedeutet auf Deutsch: Lumpensammler. Eine selbstironische Bezeichnung, denn eigentlich sammelt er Geschichten aus dem wahren Leben. Darauf versteht er sich gut, der Lumpensammler mit seinen geschiedenen Eltern, seinem behinderten jüngeren Bruder, als Heilpraktiker und als sensibler Mann. Dabei sieht er ganz anders aus. Denn der Rag ´n´ Bone Man hat die Körperstatur eines Rockers. Die Frisur wie ein Skinhead. Er trägt seinen Bart wie ein Salafist. Ein robuster Typ, keine gepflegte Eleganz. Gehörte der Rag ´n´ Bone Man zu denen bei Jesus im Stall von Bethlehem, dann wäre er eindeutig bei den bodenständigen Hirten zu finden, nicht bei den feinen Königen.

Seine Songs handeln von den Mühen des Alltags und vom Versuch, das Leben irgendwie zu meistern. Den Rag ´n´ Bone interessiert das Menschliche – und sogar das Allzu menschliche. Der Song „Human“ trägt das schon in seinem Namen. Er beschreibt, wie es sich anfühlt, von den Erwartungen anderer überfordert zu sein, ihnen etwas schuldig zu bleiben. Das passiert ja leider häufig – gerade an den Weihnachtstagen. Da treffen sich viele, oft mit hohen Erwartungen, die dann enttäuscht werden. Der Refrain des Songs lautet übersetzt so:

„Manche Leute haben die wirklichen Probleme. Manche Leute kein Glück mehr. Manche Leute denken, ich könne sie lösen. Herr im Himmel! Ich bin doch auch nur ein Mensch. Gib nicht mir die Schuld. Ich bin nur ein Mensch. Ich mache Fehler. Ich bin nur ein Mensch. Das ist alles, was man braucht, um mir die Schuld zu geben.“

Musik: aus „Human“ von Rag ’n’ Bone Man 

Den Sänger quälen zu hohe Erwartungen! Eindringlich ringt er um Gnade. Bei wem eigentlich? Das bleibt unklar. Es könnte eine Partnerin sein, die er enttäuscht hat. Oder ein Familienkrach. Er könnte das auch zu sich selbst sagen. Oder sogar zu Gott sprechen. Jedenfalls klingt er richtig ernst, als ginge es ums Ganze. Mal trotzig, mal flehentlich ringt der Rag ´n´ Bone Man darum, als Mensch angenommen zu werden, mitsamt seiner Fehler und Grenzen. Bemerkenswert, wie klein sich dieser große Mann macht. Und nicht nur sich: Die ganze Menschheit holt er vom hohen Sockel herunter, auf den sich manche gerne stellen.

Die Krone der Schöpfung – zu Recht gestutzt auf ein realistisches Maß. Aber eigenartig: Das klingt gar nicht mal deprimierend. Im Gegenteil: Es steckt sogar etwas Tröstliches darin sich seiner Grenzen bewusst zu werden. Dann kann man sich eingestehen: „Längst nicht alles, was ich möchte, kann ich auch erreichen.“ Manchmal ist ja schon ein harmonisches Weihnachtsfest zu viel, weil das Leben so kompliziert ist. Und für die aktuelle Weltlage gilt das um ein Vielfaches mehr. Die macht viele schlicht ratlos. Und nicht wenigen macht sie sogar Angst, denn niemand scheint wirklich den Durchblick zu haben. Geschweige denn, alles im Griff zu haben. Wie es mit der Welt weitergeht, ist ungewiss. Vielleicht kommt die Bescheidenheit des Rag ´n´ Bone deshalb so gut an. Allerdings weiß er auch keine Lösung. Sein Text geht so weiter:

„Ich bin kein Prophet oder Messias. Dafür solltest du irgendwo weiter oben suchen. Ich bin nur ein Mensch. Ich mache Fehler. Ich bin nur ein Mensch. Das ist alles, was man braucht, um mir die Schuld zu geben. Gib nicht mir die Schuld.“

Musik: aus „Human“ von Rag ’n’ Bone Man

Ich finde es faszinierend, dass der Rag ´n´ Bone Man mit diesem Song einen so unglaublichen Erfolg hat. Monatelang und überall in Europa war diese Ballade von der Selbstbescheidung des Menschen ganz oben in den Charts. Wie kommt es, dass diese sehnsuchtsvolle Stimme so viele tief in ihrer Seele berührt? Ich vermute: Sie spüren, dass der Rag ´n´ Bone Man auch über ihr Leben singt. Weil er das achtsam und kraftvoll tut.

Hoffnung und Zuversicht schwingen darin mit. Denn offenbar hat er jemanden vor Augen, der sein Leben mitträgt, der lieben und verzeihen kann. Niemand ist allein mit seinem Leben. Das ist gerade an Weihnachten ganz wichtig. Viele sind mit ihren Familien, Freunden oder Bekannte zusammen. Und wenn da gar niemand ist, dann ist zumindest Gott da. Gott, der in Jesus zu den Menschen gekommen ist. Für ihn gibt es keine falschen oder richtigen, keine Unmenschen, keine Übermenschen und schon gar keine Untermenschen. Alle sind Menschen, die sich danach sehnen anerkannt zu werden, verstanden und geliebt. Und meistens haben sie davon füreinander nicht genug.

Genau danach fragt der Rag ´n´ Bone Man mit seinem Song „Human“. Für mich deshalb ein echtes Weihnachtslied. Ich stelle mir vor, der Rag ´n´ Bone Man wäre tatschlich einer dieser Hirten in der Nähe von Bethlehem. Oder er begegnet Jesus später als erwachsenem Mann. Ein Treffen unter sensiblen Männern, unter Menschenfreunden. Dann würde Jesus zu ihm sagen: „Du musst gar kein Messias sein. Das bin ich ja schon. Du musst nicht mal ein Prophet sein. Dafür habe ich andere.

Du musst nur ein Mensch sein. Wenn du an mich glaubst, wenn du dich auf mich einlässt, dann kann ich dich befreien aus deinen engen Grenzen. Und ich kann dich erlösen von deiner Schuld. Ich kann dich aufrichten mit der Liebe Gottes. Sie gilt dir und allen Menschen, seien sie Hirten oder Könige, Lumpensammler oder Popstars. Allen. Das ist das Weihnachtsgeschenk Gottes an die Welt.

Musik: aus „Human“ von Rag ’n’ Bone Man

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