Singen tut gut und ist gesund
Von wegen Stille Nacht. Der Advent ist eine Zeit des Singens. Ich glaube, zu keiner anderen Jahreszeit wird so viel gesungen wie in diesen Wochen. Viele Kirchengemeinden laden extra dazu ein. Zum offenen Singen. Einen Nachmittag lang können junge und alte Menschen gemeinsam Advents- und Weihnachtslieder anstimmen. In Gemeindechören wird seit Wochen das Weihnachtsoratorium von Bach geprobt. Oder zumindest Teile daraus. Advents- und Weihnachtslieder erklingen in Kindergärten, Seniorenkreisen, Weihnachtsmärkten und genauso auf Betriebsfeiern.
Aber auch privat sitzen Menschen zusammen und singen. Es gehört zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Das gemeinsame Singen im Advent. Jeden Sonntag haben wir uns Zeit genommen. Der Wohnzimmertisch war schön gedeckt. Die Kerzen am Adventskranz wurden angezündet. Und bei Tee, selbstgebackenen Plätzchen und Lebkuchen habe ich mit meinen Eltern und meiner Schwester gesungen. Den ganzen Nachmittag. Bis zum Abendessen.
Meistens hatten wir diese kleinen, etwas abgegriffenen Heftchen zur Hand. Die gab es damals von einer bekannten Kaffeekette. Ohne diese Heftchen ging es nicht Die Lieder darin waren fast alles Klassiker aus dem evangelischen Gesangbuch. Wie zum Beispiel „Wir sagen euch an den lieben Advent, sehet, die erste Kerze brennt.“ Oder: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit.“ Aber auch Weltliches wurde gesungen, wie die „Weihnachtsbäckerei“ von Rolf Zukowski. Ein Muss für Kinder. Bis heute. So haben wir uns als Familie auf die Adventszeit eingestimmt. Und auf Weihnachten vorbereitet. Ich singe gerne, nicht nur im Advent. Aber lange Zeit war das anders.
Ich habe lange Jahre in meinem Leben nicht gerne gesungen. Obwohl ich das als Kind mit meinen Eltern im Advent viel getan hab. Ich war der festen Überzeugung: Ich kann das nicht. Das glauben übrigens viele Leute. Sie haben einmal die Erfahrung gemacht, dass jemand gesagt hat: „Du kannst nicht singen.“ Oder: „Du triffst die Töne nicht.“ Bei mir war es ein Musiklehrer im Gymnasium. Er leitete den Schulchor.
Kurz vor dem Konzert hat er mich beiseite genommen und mich gebeten, beim Auftritt nur so zu tun, als ob ich singe. Also den Mund zwar zu bewegen, aber keine Töne von mir zu geben. Playback. Für das Konzert mag das besser gewesen sein, für mich war das schlimm. Es hat mich jahrzehntelang verunsichert. Danach habe ich fast gar nicht mehr gesungen. Dabei ist Singen so schön. Selbst wenn es nur das Lieblingslied in der Badewanne, unter der Dusche oder im Auto ist.
Deswegen habe ich dieses Jahr beschlossen: Es muss sich etwas ändern. Ich möchte mir die Freude am Singen nicht länger nehmen. Getreu der Redewendung „Singe, so lernst du singen“ habe ich mir ein Herz gefasst. Ich bin in den Chor gegangen und habe zusätzlich Unterricht in Stimmbildung genommen. Am Anfang war ich sehr aufgeregt. Ich hatte regelrecht Herzklopfen. Was würde meine Gesangslehrerin sagen? Was die anderen im Chor? Aber meine Angst war unbegründet. Ich wurde herzlich aufgenommen und habe sofort einen Platz im Chor gefunden. Schon nach wenigen Wochen zeigten sich erste Erfolge. Ich wurde sicherer. Meine Stimme wurde fester. Bekam einen Klang. Und mit jedem Mal üben konnte ich etwas höher singen.
Mit der Zeit lernte ich, meiner Stimme mehr und mehr zu vertrauen. Meine „falschen Töne“ lagen nicht daran, dass ich nicht singen konnte. Es fehlte mir einfach an Technik. Ich habe die Erfahrung gemacht: Singen kann man lernen. Ich kann sagen, Singen wirkt und tut gut. Es entspannt und hebt die Stimmung. Ganz nebenbei löst es auch den einen oder anderen Schlechte-Laune-Anfall in Luft auf. Ich glaube, das liegt daran, dass niemand missmutig sein kann, wenn man während der Chorprobe in so viele entspannte und fröhliche Gesichter schaut. Wenn man miterlebt, welch schöne Musik entsteht, wenn alle zusammen singen.
Und was auch gut ist: Singen hilft, gesund zu bleiben. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Schon lange. In einem Pilotprojekt untersuchten Wissenschaftler den Laienchor einer Kirchengemeinde. Jeweils vor und nach der Chorprobe wurden den Versuchsteilnehmern Speichelproben abgenommen. Man fand heraus: Schon nach einer Stunde Chorprobe verbessert sich die Immunabwehr des Körpers. Das Herz-Kreislauf-System wird angeregt. Die Stresshormone im Körper sinken. Und es werden dreimal so viele Glückshormone ausgeschüttet als sonst. Aber Singen ist nicht nur gut für unseren Körper und für unser Wohlbefinden. Es ist auch gut für die Seele. Das wusste schon der Theologe und Kirchenvater Augustin vor weit über 1000 Jahren. Er sagte: Wer singt, betet doppelt.
Wer singt, betet doppelt. Sagt Augustin. Klingt vielleicht erstmal etwas unspektakulär. Aber ich finde, da ist was dran. Mit Worten erreicht man vorwiegend den Kopf. Den Verstand. Musik und Töne aber reichen tiefer. Sie gehen unter die Haut. Erreichen das Herz. Oder anders gesagt: Die Seele. Wer schon mal beim Singen oder Hören eines Musikstückes Gänsehaut bekommen hat, hat eine Ahnung, wovon ich rede. Wer singt, betet doppelt. Martin Luther hat diesen Satz von Augustin übernommen. Er hat selber leidenschaftlich gern gesungen. Schon von Kindesbeinen an. Man nannte ihn auch „die wittenbergische Nachtigall“.
Luther war der Meinung: Singen macht vor allem Freude in Gemeinschaft, in der Gemeinde. Deshalb war ihm das Singen im Gottesdienst so wichtig. Er wollte, dass alle singen. Nicht nur die Pfarrer und Priester, sondern die ganze Gemeinde. Alle sollten die Möglichkeit haben, mit Gesang ihren Glauben zum Ausdruck zu bringen. Luther wusste: Beim Singen prägen sich Texte und Gedanken nochmal ganz anders ein. Wenn Lieder zum Ohrwurm werden, bleibt auch der Inhalt hängen.
Dieses Phänomen kennen wir alle. Ein ganz einfaches Beispiel dafür ist das Kinderlied „Backe, backe Kuchen“. Jeder hat dieses Liedchen schon gesungen oder gehört. Und jeder weiß – dank dieses Liedes – was man braucht, um einen Kuchen herzustellen. Nämlich genau sieben Sachen: Eier und Schmalz, Zucker und Salz, Milch und Mehl. Und für die Farbe: etwas Safran. Schon kann der Kuchen in den Ofen. Über 40 Kirchenlieder stammen von Martin Luther. Weil es keine Lieder für die Gottesdienstgemeinde auf Deutsch gab, hat er einfach selbst welche geschrieben. Zum Beispiel das Reformationslied „Ein feste Burg ist unser Gott.“ Jeder damals kannte es und jeder sang es.
Aber auch das Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her.“ stammt von ihm. Er soll es für seine Kinder gedichtet haben. In fünfzehn Strophen erzählt Luther die Weihnachtsgeschichte nach und erklärt dabei, was sie bedeutet. Die Melodie für dieses Lied hat er sich geborgt. Sie stammt von einer volkstümlichen Weise, von einem damals sehr populären Trinklied. Martin Luther hat bewusst seine wichtigsten Botschaften in Gesang verpackt. Er sagte: „Die Musik ist eine Gabe und ein Geschenk Gottes; sie vertreibt den Teufel und macht die Menschen fröhlich.“ Und: „Sie ist die beste Labsal für einen betrübten Menschen.“ Musik ist ein Heil- und ein Glaubensmittel.
Bis heute singen Menschen auf der ganzen Welt seine Lieder. Mit Freude und mit Inbrunst. Und erfahren ganz nebenbei etwas über den evangelischen Glauben und die Ziele der Reformation. Ein Kirchenmusiker sagte einmal: „Luthers Lieder sind Klassiker. Einfach: Weil sie klasse sind.“
Mein Fazit: Jeder kann singen. Auch ich. Singen tut mir gut. Es macht mich fröhlich und ist auch noch gesund. Singen bringt mich mit anderen Menschen zusammen. Beim Singen kann ich mit ihnen auf ganz besondere Art und Weise meinen Glauben erleben und ihn teilen. Ich weiß: Ich bin und ich werde keine Opernsängerin. Auch keine Nachtigall wie Martin Luther. Nicht mal eine Lerche. Ich habe nicht den Anspruch, perfekt zu singen. Aber eins weiß ich sicher: Die Freude am Singen lass ich mir nicht mehr nehmen. Nicht im Advent und auch sonst nicht.