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Weisheit
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Weisheit

Dr. Paul Lang
Ein Beitrag von Dr. Paul Lang, Diakon und Lehrer für Latein, Musik und Religion in Amöneburg
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"O Sapientia: veni ad docendum nos viam prudentiae." – "O Weisheit: komm, lehre uns den Weg der Klugheit."

Eine Woche noch, dann ist Heiligabend. Heute beginnt gleichsam ein Countdown: Von heute an ordnet die Tradition der Kirche jedem Tag einen besonderen Gedanken zu. Er bezieht sich jeweils auf den ankommenden Christus. Diese Gedanken sind als Anrufungen formuliert und beginnen immer mit einem "O". "O Weisheit, komm und lehre uns …", lautet sie heute.

Jahrhunderte lang war die Hagia Sophia in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, die größte Kirche der Welt und die beeindruckendste dazu. Hagia Sophia: heilige Weisheit, das bedeutet ihr Name. Dieses Bauwerk einmal gründlich kennen zu lernen, das hatte ich mir lange gewünscht. Im Rahmen einer Studienreise vor ein paar Jahren ging dieser Wunsch in Erfüllung.

Ehrfurchtsvolles Staunen

Eiskalt weht der Wind im Dezember am Bosporus. Nach zwei Wochen in Istanbul habe ich herausgefunden, dass sich mir der schönste Blick auf die Altstadt mit ihren Minaretten und Kuppeln bei Sonnenuntergang von der nördlichen Seite des Goldenen Horns aus bietet, dem Stadtteil Galata. Dann zeichnet sich die Silhouette der Hagia Sophia dunkel vor dem orangegelben Horizont ab.

Wer die Hagia Sophia betritt, ist zunächst tief beeindruckt. Der Goldgrund der mit vielen Mosaiken bebilderten Innenflächen von Kuppel, Nebenkuppeln und Kirchenschiff lässt den Betrachter ehrfurchtsvoll staunen.

O Weisheit! Wenn ich an Weisheit denke, an Verständigkeit, das Begreifen größerer Zusammenhänge, dann kommen mir die großen Philosophen der Antike in den Sinn: Platon und Aristoteles etwa. Mit ihrem Verstand, ihrem Hinterfragen, aber auch den Wahrnehmungen ihrer Sinne haben sie versucht, die Zusammenhänge der Welt zu ergründen. Und die Botschaft der Hagia Sophia? Was wollten die Baumeister und Künstler hier vermitteln?

Kinder – Meister der Weisheit?

Beim Rundgang im Inneren trifft mein Blick immer wieder auf Darstellungen der Gottesmutter Maria: Alle ähneln sich: Stets trägt Maria ein dunkles Gewand. Ihr Sohn Jesus sitzt in goldenem Gewand auf ihrem Schoß. Dabei ruht er aber in sich wie auf einem Thron.

"Es ist eine Weisheit, die nicht aus unserer Zeit stammt", erläutert Paulus im 1. Korintherbrief. Geheimnisvoll sei sie, fährt er fort. Das Geheimnis ist tatsächlich im Bild zu erkennen: eine Umkehrung der Werte. Der Weise in der Hagia Sophia ist Christus: ein Kind! Das goldene Gewand trägt nicht der Mächtige oder der große Denker, sondern der kleinste, ein Kind!

Welche Weisheit ein Kind vermitteln kann, zeigt der thronende Christus der Hagia Sophia. Vertrauen und Gelassenheit strömen von ihm aus. Seine Ruhe verdeutlicht, dass er scheinbar ganz in der Gegenwart lebt.

Dazu lädt die Anrufung "O Weisheit …" heute ein, denke ich: Wie ein Kind gelassen und ruhig im Hier und Heute zu sein. Wer das tut, der schlüpft in das goldene Gewand, wird auch für andere wertvoll und leuchtend.

 

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