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Die weit gereiste Frage
GettyImages/KevinHolt

Die weit gereiste Frage

Sabine Müller-Langsdorf
Ein Beitrag von Sabine Müller-Langsdorf, Evangelische Pfarrerin, Zentrum Oekumene, Frankfurt
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Bei seiner Verabschiedung in den Ruhestand erzählte ein Pfarrer das schönste Erlebnis aus seinen Arbeitsjahren: Als Berufsanfänger hat er im Kindergottesdienst die biblische Geschichte von Jakobs Traum von der Himmelsleiter erzählt.

Jakob und die Himmelsleiter

In dieser Geschichte liegt ein Mann nachts in der Wüste und schläft. Er heißt Jakob und ist nicht unbedingt ein Vorzeigeexemplar in Gottes Garten. Er hat oft betrogen, manches hat er getrickst und musste deshalb von Zuhause weg. Darum übernachtet er in der Wüste. Er träumt von einer Leiter zwischen Himmel und Erde. An der Leiter steigen die Engel Gottes auf und nieder. Dann hört Jakob im Traum am Ende der Leiter die Stimme Gottes: „Ich bin mit dir und will dich behüten…“ Eine traumhafte Ansage für einen wie Jakob.

Warum klettern die Engel? Sie können doch fliegen.

Sicher haben die Kinder dem jungen Pfarrer gut zugehört. Tricksen und lügen, magische Wesen und eine Himmelsleiter, alles spannend. Ein Mädchen meldet sich und fragt: „Du, Herr Pfarrer, warum müssen die Engel Sprosse für Sprosse die Leiter hoch und runter? Sie können doch fliegen!“

Eine unbeantwortete Frage wird weitergegeben

Der Pfarrer weiß nicht, was er dem Mädchen damals geantwortet hat. Aber die Frage ließ ihn nicht los. Er nahm sie in sein weiteres Berufsleben mit. Einmal traf er den Leiter einer jüdischen Jugendgruppe, einen gelehrten Mann. An ihn gab er die Frage des Mädchens weiter: Warum müssen die Engel Sprosse für Sprosse die Himmelsleiter hoch und runter? Sie können doch fliegen!

Der Jugendleiter grübelte und sagte dann: „Das ist eine kluge Frage. Ich nehme sie mit nach Israel und stelle sie dort den Talmudgelehrten. Die sind echte Spezialisten der Heiligen Schriften.“

Die Talmudgelehrten finden eine Antwort

Also wanderte die Frage eines Kindergottesdienstkindes bis nach Israel in den Kreis weiser Schriftkenner. Und dort wurde die Antwort gefunden. In einem der vielen Kommentare zu den Worten der Heiligen Schrift steht geschrieben: „Die Dinge zwischen Himmel und Erde sind so beschaffen, dass sie kleine Schritte brauchen.“

Mit diesen Worten hat sich mein Kollege in den Ruhestand verabschiedet. Ich bin ihm dankbar für seine Geschichte. Dass er die Frage eines Kindes nicht vergessen hat. Sie mitgenommen hat von Station zu Station. Und am Ende eine Antwort bekommen hat, die er teilt.

„Die Dinge zwischen Himmel und Erde sind so beschaffen, dass sie kleine Schritte brauchen.“

Ich nehme diese Antwort mit in meinen Tag mit seinen Herausforderungen. Manchmal will ich schnell eine Lösung für meine Probleme finden. Sozusagen wie im Flug. Dann erinnere ich mich an die Engel Gottes, die die Himmelsleiter nicht rauf- und runterfliegen, sondern Sprosse für Sprosse klettern. Und an den Satz: „Die Dinge zwischen Himmel und Erde sind so beschaffen, dass sie kleine Schritte brauchen.“

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