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Mut machen mit Lippenstift
Pixabay/Qijin

Mut machen mit Lippenstift

Andrea Seeger
Ein Beitrag von Andrea Seeger, Evangelische Theologin
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Diese Woche habe ich mich mit einer Wirtschaftsprüferin unterhalten. Sie ist zuständig für einen Kosmetikkonzern und hat erzählt: Der Umsatz an Lippenstift, Schminke, Wimpertusche ist im ersten Halbjahr 2022 in der Ukraine gewachsen. In der Ukraine? Wo Krieg herrscht, Terror und Not? Im ersten Moment frage ich mich: „Haben die Frauen nichts Besseres zu tun, als sich zu schminken?“ Und schäme mich gleich für diesen Gedanken.

Nie ohne Lippenstift

Mir fällt die Ukrainerin ein, die mit ihren beiden Kindern und ihrem kleinen Hund bei unserer Nachbarin untergekommen ist. Sie geht immer perfekt gestylt aus dem Haus, nie, ohne Lippenstift aufgetragen zu haben. Das macht sie nicht, um jemanden aufzureißen. Sie hat mir erzählt, dass sie sehr traurig ist, weil sie ihren Mann zurücklassen musste, ihre übrige Familie, ihr Zuhause.

Sich schminken ein Zeichen der Stärke

Sie muss stark sein für ihre Kinder, muss Vorbild sein. Sich zu schminken, sich gut zu kleiden, Wert auf ihr Äußeres zu legen hilft ihr dabei. Ich frage sie, ob auch ihre Freundinnen, die in der Ukraine geblieben sind, sich schminken. Sie schaut mich leicht irritiert an und sagt: Ja!

Wer sich gehen läßt, ergibt sich

Das liegt nicht speziell an den Ukrainerinnen, sondern ist oft in Krisenzeiten so. Während der Weltwirtschaftskrise am Ende des 19. Jahrhunderts und während des Zweiten Weltkriegs gehörten Lippenstifte zu den am meisten verkauften Produkten. Frauen verteidigen in Notsituationen hartnäckig die Kontrolle über ihr Aussehen. Sie wappnen sich mit Schminke gegen das alltägliche Grauen. Wer sich gehen lässt, ergibt sich. Wer Haltung bewahrt, macht Leidensgenossinnen Mut. Lippenstift hilft gegen Demütigungen.

Jetzt erst recht!

Die Frauen damals wie heute wollen sich selbst respektieren, ihre Würde bewahren unter entwürdigenden Umständen. Das Motto könnte lauten: Jetzt erst recht!

Sich-schön-Machen heißt Zeichen setzen. Lippenstift und Nagellack sind kräftige Signale dafür: Wir leben! Meine Frage vom Anfang: Haben die Frauen nichts Besseres zu tun, als sich zu schminken? Klare Antwort: Nein!

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