"Ich muss heute in Deinem Haus bleiben" (Lukas 19,5c)
Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer!
Ich schaue aus dem Fenster und mir schwant: Der goldene Herbst ist fast vorbei! Das wunderbare gelbe, orangefarbene und rote Laub fällt langsam von den Bäumen, die Farben verblassen. Manch sonniger Tag hat so in den vergangenen Wochen noch für ein wohliges Gefühl gesorgt. Für einen Moment konnte man immer wieder einmal vergessen, dass die dunklere der Jahreszeiten vor der Tür steht. In den nächsten Monaten werden zumindest unsere kahlen Laubbäume fürs erste kein Bild neuen und aufkeimenden Lebens abgeben. Genau in dieser Zeit aber rückt normalerweise in unseren Dörfern und Gemeinden in der Rhön ein anderer Baum in das Blickfeld des Interesses: Der Kirmesbaum!
Am Sonntag nach Allerheiligen und Allerseelen wird bei uns in vielen Orten Kirmes, Kirchweih gefeiert. Eine Tradition, die in unseren Breitengraden von der jungen Generation immer noch gerne gepflegt wird. Denn es geht nicht nur um das "Jahrgedächtnis der Kirchweih" mit Gottesdienst, den Kirmesbaum und die traditionellen Tänze in bunter Tracht unter dem Baum. Auch das ausgelassene Feiern, kurz gesagt die Party, kommt dabei keinesfalls zu kurz.
Ich bewundere jedes Jahr wie viel Zeit, Energie und Kreativität die jungen Leute als "Kirmesgesellschaft" aufbringen, um eine gute Kirmes feiern zu können. Der Kirmesbaum ist dabei oft der ganze Stolz der Gruppe und gerne versuchen sich Nachbarorte, was die Höhe des Baumes anbetrifft, zu übertrumpfen. Die für diesen Brauch benötigte Fichte wird Wochen vorher in den heimischen Wäldern ausgesucht und geschlagen. Der Baum wird von oben bis unten entastet und geschält. Dann wird der Stamm traditionell mit einem doppelten rot-weißen Schlangendekor farbig gefasst. Am Tag der Aufstellung erhält der Baumstamm noch eine frische grüne Fichtenspitze und zwei oder mancherorts drei grüne Kränze, allesamt mit roten und weißen Bändern geschmückt.
Jedes Jahr pflegen die jungen Leute im Alter um die Volljährigkeit herum diesen und andere mit der Kirmes verbundenen Bräuche. Jedes Jahr kommen immer wieder neue Jungs und Mädels, die das erforderliche Alter erreicht haben, dazu und machen mit. Sie wissen genau, wie alles auszusehen und abzulaufen hat, denn das haben sie ja schon von klein auf mitbekommen.
Mir als Pfarrer kommt dann immer auch die Aufgabe zu, wieder einmal manches zu erklären. Warum etwa ist der Baum rot-weiß und nicht andersfarbig gestaltet. Und was hat er überhaupt für eine Bedeutung bei der Kirmesfeier:
Wie auch der Weihnachtsbaum erinnert der Kirmesbaum an den wohl prominentesten Baum der Bibel: Es geht um den Baum der Versuchung im Paradies, von dem die Schöpfungsgeschichte der Bibel erzählt. Von diesem Baum hatten die ersten Menschen, Adam und Eva genannt, die verbotene Frucht gekostet und damit Gottes Gebot übertreten. Die Schlange, Urbild für das Böse, hatte sie dazu versucht, und damit die Glückseligkeit der Menschen im Paradies beendet. Seitdem hatten die Menschen ihre unmittelbare Nähe zu Gott verloren und erfahren sich als sterbliche Wesen. Die Schlangenlinien am Stamm des Kirmesbaums wollen so an die Versuchungsgeschichte erinnern. Kirmes aber wird natürlich nicht wegen dieser Niederlage der Menschheit gefeiert. Vielmehr beruht der christliche Glaube darauf, dass Jesus Christus den alten Fluch der Trennung von Gott und Mensch an einem neuen Baum, dem Baum des Kreuzes, gebrochen hat. Durch sein Sterben am Kreuz hat Jesus, der Sohn Gottes, die Macht des Bösen durch seine Liebe besiegt. Dieser Sieg über das Böse und den Tod findet seine Bestätigung in der Auferstehung Jesu von den Toten. Die verschiedenen Darstellungen des auferstandenen Christus in der Kunst zeigen ihn immer mit einer rot-weißen Siegesfahne. So dominieren diese Farben auch an unserem Kirmesbaum und erinnern daran, dass wir als Kirche den Sieg des Lebens über den Tod feiern. Das ist der Existenzgrund jedes Kirchbaus, jedes Gottesdienstes und letztlich auch jeder Kirmesfeier.
Musik: Die drei Trompeter - I. Allegro aus dem Concerto B-Dur für Trompete (Oboe), Violine, Streicher und Basso continuo – 3:53 Min.
Auf einen Kirmesbrauch, der andernorts vielleicht noch gepflegt wird, bin ich vor einigen Jahren gestoßen. Auch dieser Brauch hat mit den Farben rot und weiß zu tun. Eine Fahne in diesen beiden Farben wird zur Kirmes aus einem Fenster des Kirchturms gehängt. Dass diese Fahne Zachäusfahne heißt, oder im süddeutschen Raum auch liebevoll "Zacherl" genannt wird, ist kein Zufall. Einer der biblischen Texte, die seit alter Zeit beim Kirchweihgottesdienst vorgelesen werden, ist die Zachäus-Geschichte. Die Erzählung berichtet, wie Jesus in die Stadt Jericho kommt, in der Zachäus als reicher Oberzöllner lebte.
Der Evangelist Lukas schreibt über ihn: Er suchte Jesus, um zu sehen, wer er sei, doch er konnte es nicht wegen der Menschenmenge; denn er war klein von Gestalt. Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste. Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus bleiben. Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf. Und alle, die das sahen, empörten sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt (Lk 19, 3-7).
Soweit das Lukasevangelium. Den Zeitgenossen Jesu im Heiligen Land waren die Zöllner verhasste Kollaborateure der römischen Besatzungsmacht. Zudem standen sie in dem Ruf, sich zulasten der Bevölkerung zu bereichern. So erscheint Zachäus als Mensch, der in der Bevölkerung keine Freunde hat, keine soziale Beziehung, keiner schaut ihn an, keiner schätzt oder liebt ihn gar. Ein Mensch in dieser Situation wird seine Bestätigung und Anerkennung nur noch mehr im Materiellen und im Wohlstand suchen. Das Evangelium beschreibt Zachäus so als "kleinen Menschen", der durch die Menschenmenge nicht zu Jesus durchdringen kann. Deshalb steigt er auf einen Baum, was man auch symbolisch deuten kann: Er erhebt sich über die anderen, schaut sich die Dinge aus der Distanz an, ist aber kein Teil des Geschehens mehr. Doch das Unerwartete geschieht: Auch wenn keiner der Mitbürger ihn wahrnimmt, Jesus sieht ihn an, ruft ihn beim Namen, holt ihn von seinem hohen Baum und kehrt bei ihm ein. Die Tatsache, dass Zachäus durch Jesus plötzlich Ansehen geschenkt bekommt, macht ihn zu einem anderen und neuen Menschen. Er verspricht Jesus aus freien Stücken: Siehe, Herr, die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen, und wenn ich von jemandem zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück (Lk 19,8). Zachäus wird so durch die Begegnung mit Jesus wieder Teil der Gemeinschaft, zu einem sozialen Wesen.
Dieses traditionelle Kirchweihevangelium werde ich auch in diesem Jahr beim Gottesdienst in meiner Gemeinde wieder vorlesen. Auch wenn die Beschränkungen in Zeiten der Corona-Pandemie in diesem Jahr keine ausgelassene gemeinschaftliche Kirmesfeier zulassen, Gottesdienst können wir trotzdem und Gott sei Dank in unserer Kirche feiern. Mit Abstand und Maske freilich, aber auf einen Baum wie Zachäus muss die Gemeinde dazu nicht klettern. So feiern Christen an Kirchweih, dass der Sohn Gottes in Menschengestalt als Gast auf dieser Erde eingekehrt ist: Jesus möchte in jedem das Bewusstsein dafür wecken, bei Gott Ansehen zu haben.
Musik: Die drei Trompeter - I. Andante aus der Sonata a cinque No. 1 D-Dur für Trompete, Streicher und Basso continuo – 2:59 Min.
An wie vielen Orten wird wohl heute Kirchweih gefeiert? In manchen Gemeinden geschieht das am tatsächlichen Datum, andernorts ist es ein symbolischer Termin. Wie viele Kirchen es wohl auf dieser Erde geben mag? Tausende und Abertausende. Angefangen bei den kleinen Kapellen, an denen vielleicht ein Wanderer kurz innehält um Gott nachzuspüren. Weiter über die Kirchen in den Gemeinden, in denen regelmäßig Gottesdienst gefeiert wird, bis hin zu den großen Kathedralen, in denen Christen sich als universale Gemeinschaft der Kirche erfahren können.
Es ist nicht immer ganz leicht, diese Gemeinschaft zu leben oder auch zu erleben. Unterschiedliche Menschen mit ihren jeweiligen Sicht- und Lebensweisen, unterschiedliche Bedürfnisse und Sehnsüchte, verschiedene Umstände, die unseren Alltag und unsere Wertvorstellungen prägen, gestalten auch die Kirche und geben ihr ihre Atmosphäre. Das gilt für die offiziellen Vertreter der Kirche genauso wie für jede Getaufte und jeden Getauften, die zum Volk Gottes gehören. Das Evangelium mit der Geschichte von Zachäus will ermutigen, mir von Jesus helfen zu lassen, meinen Platz in dieser Gemeinschaft zu finden und einzunehmen. Das für mich Spannende an dieser Geschichte ist, dass Jesus nicht an Ort und Stelle öffentlich Verbindung zwischen Zachäus und der "Menschenmenge" herstellt. Kirche im Sinne dieses Evangeliums beginnt bei Zachäus zu Hause, wohin sich Jesus eingeladen hat und wo er mit Zachäus ins Gespräch kommt. Vielleicht kann die aktuelle Phase des "Lockdown light" mehr sein, als eine Zeit, die uns nur an unser Zuhause bindet. Vielleicht ist der "Lockdown light" die Gelegenheit, in der es uns Jesus "leicht" machen möchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Vielleicht bietet sich diese Zeit an, für den Gast Jesus einen besonderen Platz in Ihrer Wohnung zu bereiten, von wo aus er Sie anschauen kann: Ein Kreuz an einer besonderen Stelle, die Bibel offen und griffbereit für ein kurzes und zufälliges Wort von Gott, oder eine brennende Kerze für eine Zeit des bewussten Hinhörens in die Stille. So kann das eigene Zuhause ein Ort der Gottesbegegnung und des Gebets werden.
Genau solche Orte sind auch Kirchen. Unzählige gibt es von ihnen auf dieser Welt. In einer Zeit, in der das sichtbare Christentum in der Gesellschaft zu verschwinden scheint, sind sie für mich dennoch wertvolle Zeugen der Wirklichkeit Gottes, einer Wirklichkeit, die nicht von der Zahl ihrer Anhänger abhängig ist.
Den meisten dieser Kirchen, unabhängig von ihrer Größe, ist etwas gemeinsam: Ein Turm, der wie ein Zeigefinger in den Himmel weist und an die Gegenwart dessen erinnert, bei dem jeder Mensch Ansehen hat. Gott, der in Jesus selbst Mensch wird, und auf die Menschen zugeht, sie sucht und zu einer Gemeinschaft zusammenführt. Das jedenfalls lese ich aus der überlieferten Geschichte von Jesus und Zachäus heraus. Auf einmal war es für Zachäus ganz leicht, seine Lebenspraxis zu ändern. Er hat gelernt, seine Mitmenschen in den Blick zu nehmen und versteht sich fortan als Teil der Gemeinschaft.
Musik: Die drei Trompeter - II. Largo aus dem Concerto B-Dur für Trompete (Oboe), Violine, Streicher und Basso continuo – 3:03 Min.
In diesem Jahr wird sich Kirchweih, die Kirmes in meiner Gemeinde, anders anfühlen als sonst. Wegen Corona. Wie viele andere Feste, die dieses Jahr schon dem Virus zum Opfer gefallen sind, wird den Menschen in der Rhön auch dieses fehlen. Der gemeinsame Gottesdienst wird mich und meine Gemeinde dennoch die Freude der Gemeinschaft mit Jesus und untereinander spüren lassen. Ganz gleich, ob in der Kirche leibhaft dabei oder per Livestream in unserem YouTube-Kanal. Etwas können wir durch die Corona-Auflagen intensiver erleben als vorher: Bisher war es im Gottesdienst üblich, den Menschen um mich herum zum Friedensgruß die Hand zu reichen, was oft sehr flüchtig passierte und manch einem oder einer gar nicht so recht war. Jetzt mussten wir uns eine Alternative zum Händedruck ausdenken: Wir schauen uns bewusst gegenseitig in die Augen! Und nachdem durch die Maskenpflicht ein Lächeln nicht mehr ohne weiteres als solches zu identifizieren ist, ersetzen wir es durch eine leichte Verneigung zueinander. So geben wir einander Ansehen. Und vielleicht berührt es den einen oder die andere so, wie Zachäus vom Blick Jesu berührt wurde.
Ich wünsche Ihnen und mir einen gesegneten Sonntag!
Musik: Die drei Trompeter - II. Largo aus dem Concerto B-Dur für Trompete (Oboe), Violine, Streicher und Basso continuo – 2:09 Min.
Musikauswahl: Regionalkantor Oskar Roithmeier, Marburg