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Der lange Stein von Langenstein
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Der lange Stein von Langenstein

Dr. Paul Lang
Ein Beitrag von Dr. Paul Lang, Diakon und Lehrer für Latein, Musik und Religion in Amöneburg
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Ein alter Mann sagt zu mir: „Kommen Sie um Weihnachten einmal in mein Heimatdorf, dann wenn die Tage am kürzesten sind. Gute Fernsicht sollte sein.“ Am Rande eines Vortrags über die Anfänge des Christentums in Oberhessen waren wir ins Gespräch gekommen.
Kurz vor Sylvester erinnere ich mich daran. Am Nachmittag ist strahlender Sonnenschein. Ein Freund, der gerade zu Besuch ist, hat Lust mitzukommen. Gemeinsam beschließen wir, der Einladung des alten Mannes zu folgen und brechen auf. Einige Minuten später stehen wir am Ortsrand von Langenstein. Ein „Menhir“, so heißt „langer Stein“ in der Sprache der Kelten, hat diesem Ort einst seinen Namen gegeben. Er steht mitten im Dorf. Irgendwann hat man die Kirchhofmauer so angelegt, dass der Menhir ein Teil davon geworden ist. Mit seinen, ehemals über 6 Metern, nach einem Blitzeinschlag heute immer noch fast 5 Metern Höhe ein beeindruckendes Monument. Genau genommen müsste man von einer Steinplatte sprechen. Denn er ist zwar über 2 Meter breit, aber kaum 50 Zentimeter dick.
Wir sind gespannt, was uns erwartet. Von unserem Standpunkt aus haben wir einen guten Blick über das Dorf, hinüber zum Menhir und seiner Ausrichtung nach Südwesten. Während die Sonne sich dem Horizont nähert, werden im Abendrot langsam die Konturen eines weit entfernten Berges sichtbar: der Dünsberg bei Gießen. An seiner markanten Form ist er gut zu erkennen.
Die Sonne berührt gerade die oberste Kante des Menhirs, als der Gipfel des Dünsberg seine Form verändert. Die Spitze verschwindet. An ihre Stelle tritt eine Mulde, die vom Sonnenball genau ausgefüllt wird. Nach wenigen Minuten ist das Phänomen wieder vorüber. Vor dem tiefroten Abendhimmel ist nur noch die gewohnte Kontur des Dünsberg zu sehen.
Wenn die Tage am kürzesten sind, stehen der Langensteiner Menhir, der Dünsberg bei Gießen und die untergehende Sonne exakt in einer Linie. Die Kelten verehrten den Dünsberg als heiligen Berg des Belenus, des Gottes des Lichtes, lese ich später nach. Der Menhir von Langenstein ist also offenbar Teil einer alten Jahresuhr: Mit Gewissheit konnten die Kelten so schon vor annähernd zweitausend Jahren die Wintersonnenwende bestimmen.
Zu diesem Zeitpunkt feiern wir Weihnachten. Seit dem 5. Jahrhundert ist der Zeitpunkt der Sonnenwendfeier mit dem Geburtsfest Christi verbunden. Im Religionsunterricht wundern sich Schüler manchmal über solche Zusammenhänge. Heidnisches im Christentum? Jede Religion strebt nach Wahrheit, nach Zugang zu dem, was menschliches Begreifen übersteigt. Davon sind Christen überzeugt. Deswegen tun Religionen gut daran, einander wertzuschätzen.
Wenn Menschen einst sehnsuchtsvoll auf die kürzesten Tage des Jahres blickten, dann, weil sie wussten: Von jetzt an geht es aufwärts, das Licht gewinnt wieder die Überhand. Ein neues christliches Lied von Sibylle Fritsch formuliert das so: „In der Mitte der Nacht, ist der Anfang eines neuen Tags. Und in ihrer Erde blüht die Hoffnung.“ Das feiern Christen an Weihnachten. Die Geburt Jesu ist das, worauf ein Menhir wie der in Langenstein hinweist. Das macht er auch als Teil der Kirchhofmauer noch gut.

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