Hagia Sophia – heilige Weisheit…
Noch eine Woche, dann ist Heilig Abend. Bei mir löst das gemischte Gefühle aus; bei vielen anderen vermutlich auch. Da ist auf der einen Seite Vorfreude auf das Fest. Feiern mit Familie und Freunden, Besuche, festliche Gottesdienste und Musik: wie schön! Auf der anderen Seite richtet sich der sorgenvolle Blick auf alles, was ich bis dahin noch erledigen will und sollte. Dazu kommt die nicht unbegründete Furcht, dass die nächsten Tage viel Hektik mitbringen werden.
Scheinbar hatten die Menschen dieselben Sorgen auch schon vor zwölf Jahrhunderten. So lange nämlich schon ordnet die Liturgie, der Gottesdienst der Christen, jedem dieser letzten sieben Tage bis Weihnachten einen meditativen Gedanken zu. Nach ihrer liturgischen Verwendung nennt man sie O-Antiphonen.
Der erste dieser Impulse richtet sich heute, am 17. Dezember, auf die Weisheit. Ich finde das überraschend und erstaunlich. Was eigentlich ist Weisheit? Weisheit ist mehr als Wissen. Weisheit hat mit Verstehen zu tun und dem Erahnen von Zusammenhängen und von Hintergründen. Weisheit sichert gelingendes Leben. „Wer sie am frühen Morgen sucht, findet sie vor seiner Türe sitzen. Suche sie, sie lässt sich finden.“ Solche ermutigenden Gedanken enthält das „Buch der Weisheit“. Es ist ein Buch der Bibel.
„Heilige Weisheit“ ist auch der Name eines außergewöhnlichen Bauwerks. „Heilige Weisheit“ heißt auf griechisch „Hagia Sophia“. Die Hagia Sophia befindet sich in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Lange war sie die wichtigste Kathedrale der Christen. Sie prägte das Denken und Bauen der gesamten Christenheit. Nach ihrer Umwandlung in eine Moschee wurde sie Vorbild für islamische Baukunst. Heute ist sie Museum. Auch als Museum geht von diesem faszinierenden Meisterwerk der Architektur große Faszination aus.
Seit eineinhalb Jahrtausenden ist sie mit 33 Metern Durchmesser, mit ihrer komplexen Konstruktion und Bauweise einzigartig in der Welt.
Vier Viertelkugeln in den Ecken ergänzen die Kuppel. Kreis und Kugel sind also prägende Elemente. Die Symbolik der Mitte ist nicht zu übersehen. In ihrem Inneren enthält die Hagia Sophia obendrein ein Omphalion, einen Nabel der Welt. Eine kreisrunde Bodenplatte markiert diese Stelle. Hier wurden die Kaiser gekrönt. Man sah an dieser Stelle den Mittelpunkt der Welt verortet.
Der Verweis auf die Mitte ist tiefe Weisheit: Name und Bauform entsprechen einander. Die Mitte kennen, wissen, worum sich alles dreht: Das ist weise. Es bewahrt davor, sich in Nebensächlichkeiten zu verlieren, sich zu verzetteln. Die Mitte kennen, wissen, woraus das Leben schöpft, dazu lädt die heutige O-Antiphon ein.
Sie rät: Dreh dich nicht um dich selbst, kreise nicht um Unwichtiges. Richte dich besser auf die Mitte aus, den Nabel. Das, woher das Leben kommt, was wirklich wichtig ist, das feiern wir in einer Woche. Ein guter Rat, sich heute schon darauf auszurichten, finde ich.
