Ich habe die Wahl
In diesen Tagen sieht der Eingangsbereich des Gymnasiums Hohe Landesschule in Hanau ganz anders aus. Statt der sonst benutzerfreundlichen Grautöne an den Wänden sind die Farben Blau und Gelb vorherrschend. Hat ein nicht ganz unbekanntes Möbelhaus neue Tische und Stühle gespendet? Das ist es nicht.
Blau und Gelb sind die Farben Europas. Die ganze Schule unterstützt die Europawahl. Da sind Plakate mit Informationen. Da hängen Europaflaggen – gelbe Sterne in einem Kreis angeordnet auf blauem Grund. Und, ja – alle Sterne sind noch da. Zeichen der Hoffnung oder gab es noch keine aktuellen Banner?
Bunte Europa-Papphocker laden zum Sitzen ein. Denn es gibt Vorträge über die Bedeutung Europas, sogar die Ministerin schaut vorbei. Junge Menschen für Europa begeistern, das gehört zu unserem Schulprogramm. Auch engagiert darüber diskutieren, was ist gut an Europa und was nicht, und wie es besser werden kann. Schließlich gestaltet die Generation, die jetzt die Schule besucht, das Europa der Zukunft. - Und das nicht nur am Freitag, an dem auch Schüler unserer Schule mit ‚Fridays for future‘ unterwegs sind.
Aber es gibt nicht nur was zum Denken und Debattieren. In blaugelbe Stoffbeutel kann eingetütet werden, was es an Euro-Stiften und anderen Mitnahmeartikeln so gibt. Außerdem gilt: ‚Die Liebe zu Europa geht auch durch den Magen,‘ meint schmunzelnd Herr Prochnow, der Fachbereichsleiter – ein Europa-Buffet mit vielen Spezialitäten ist aufgebaut.
Natürlich gibt es was auf die Ohren – die Europahymne erklingt. Zwar hat sie offiziell keinen Text, aber Friedrich Schiller hat Worte zu Beethovens Musik gefunden: ‚Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium …‘‚ soweit kennen fast alle den Text. ‚Elysium‘ ist das Paradies der griechischen Antike, damit soll wohl an die Wiege der Demokratie erinnert werden.
Wie die Zeile ‚Alle Menschen werden Brüder‘ in Gender-Zeiten gesungen werden soll, ist allerdings noch umstritten.
Höhepunkt des Engagements für Europa ist eine ‚Juniorwahl‘. Welche Entscheidung werden die Jugendlichen zwischen den über vierzig Parteien treffen? ‚Juniorwahl bedeutet, wir haben das Wahlalter auf vierzehn Jahre festgelegt, damit viele an der Wahl teilnehmen können‘, erklärt Herr Prochnow. Er wendet sich zu mir: ‚Das ist übrigens auch das Alter mit dem man religionsmündig wird.‘
Das ein Stichwort zum Nachdenken für mich: Was kann der Reli-Unterricht dazu beitragen, wahlmündig zu werden? Zu erkennen, wie wichtig es ist, dass ich die Wahl habe und mein Wahlrecht auch wahrnehme? – Da gibt es doch diese Geschichte aus der Bibel …
Mit der Geschichte aus der Bibel betrete ich auch ein Gebäude: In welchen Farben die Versammlungsräume der ersten Gemeinde in Jerusalem gehalten waren, weiß ich nicht. Ich denke mal, eher schlicht, man traf sich in Privathäusern. Was in diesen Räumen passierte, weiß ich schon. Es steht in der Apostelgeschichte.
Es geht hoch her. Es wird gestritten, hitzige Debatten werden geführt. Denn es ist längst nicht alles so, wie es sein sollte. Es gibt Probleme. Die erste Gemeinde in Jerusalem war ein buntes Völkchen. Angehörige verschiedener Kulturkreise hatten sich zusammen gefunden – Juden und Griechen. Klar wollten sie eine Gemeinschaft sein. Aber das war nicht einfach.
Eine gerechte Verteilung von Gütern sollte eine der Grundlagen der Gemeinschaft sein. Aber ausgerechnet da entstehen Konflikte. Gefühlt oder echt, es kommt zu Ungerechtigkeiten: Die einen denken, sie müssten zu viel abgeben, die anderen, sie bekämen zu wenig. Ein typischer Verteilungskampf setzt ein.
Die Gründer der Gemeinde, die Apostel, sehen sich überfordert. Sie schaffen es allein nicht, für eine Lösung zu sorgen. Da müssen andere her. Leute mit Talent, Verantwortungsgefühl und Besonnenheit für schwierige Aufgaben. Leute, die vom richtigen Geist für die gemeinsame Sache geleitet werden. Schließlich hängt die Zukunft davon ab, wie man die Gegenwart gestaltet.
Ich halte es für eine große Stärke der Apostel, dass sie im richtigen Moment erkennen: einer allein kann die Konflikte nicht lösen. Die gemeinsame Sache braucht viele und kompetente Mitgestalter. Aufgaben werden manchmal besser delegiert – aber an die Richtigen.
So schlagen die Apostel der Gemeinde eine Wahl vor. Alle sollen sich Gedanken machen, wer den anstehenden Aufgaben am besten gerecht wird. Und sie geben an, was die Kandidaten qualifizieren soll: Weisheit und Handeln im Heiligen Geist.
Die Gemeinde stellt sich ihrer Wahlverantwortung. Wer sich zur Wahl stellt, muss den Wählern seine Weisheit und sein Handeln im Heiligen Geist vorstellen. Wer wählt, weiß um die Bedeutung seiner Stimme für die Zukunft der Gemeinschaft.
Diese Geschichte haben wir im Reli-Unterricht nachgespielt und dabei überlegt: Was bedeutet für uns ‚Weisheit‘, was heißt ‚Handeln im heiligen Geist‘?
‚Weise ist, erst nachdenken, dann handeln‘, meint Julia. ‚Kein blinder Aktionismus‘, ergänzt Jan. ‚Auch mal hören, was andere dazu sagen‘. – ‚Darüber nachdenken, welche Folgen meine Entscheidung hat.‘ waren weitere Antworten.
Und ‚Handeln im Heiligen Geist?‘ – Klar kam: ‚danach fragen, was Gott will‘, ist ja schließlich Reli-Unterricht. Ganz wichtig war: ‚Dass verschiedene Religionen friedlich miteinander leben‘. Katharina macht das konkret: ‚Toleranz und Respekt, das ist der Geist‘. Lukas sagt: ‚Sich für die Schwachen einsetzen, zum Beispiel für Arme und Flüchtlinge‘.
Ich denke, das sind Orientierungen zur richtigen Wahl nicht nur für Junior-Wähler. Für die Europawahlen ebenso wie für andere Wahlen in unserem Land oder unseren Kommunen. Und natürlich genauso für die Wahlen in unseren Gemeinden, die Kirchenvorstandswahlen.
Meine Stimme entscheidet mit über die Gestaltung der Gesellschaft und ihre Zukunft. Ich habe die Wahl. Davon Gebrauch machen gehört zum mündig werden. Dazu kann auch Reli-Unterricht beitragen.
Die Apostelgeschichte erzählt, dass Menschen gewählt wurden, die ihre Aufgaben so gut erfüllt haben, dass die Gemeinschaft weiter wachsen konnte – bis heute. Und heute haben wir wieder die Wahl…
Heute ist Wahltag für Europa. Ich denke, in den verschiedenen Wahllokalen – Schulen, Turnhallen, Gemeindebüros, hängen Europaflaggen. Das ist die passende Inneneinrichtung heute. Für mich zugleich eine Orientierungshilfe.
Ich habe die Wahl. Das ist ein Geschenk und die Verantwortung der Demokratie.
Ich bin überzeugt, die Kriterien, die die Juniorwähler benannt haben, taugen auch für meine Entscheidung: Ich möchte, dass die Politik in Europa von Weisheit geleitet ist – erst Nachdenken, dann Handeln, unterschiedliche Anliegen und Interessen berücksichtigen, die Folgen von Entscheidungen mit bedenken. Ich glaube, der ‚Europäische Geist‘ ist auch mit Hilfe des Heiligen Geistes entstanden. Frieden, Freiheit und Verantwortung sind auch Werte meines Glaubens.
Welche Zukunft Europa hat, liegt an denen, die gewählt werden – von denen, die wählen gehen.
Übrigens: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Im Herbst werden in Kurhessen-Waldeck Kirchenvorstandswahlen stattfinden … da kann ich mich als Kandidat aufstellen lassen und selbst wählen gehen – auch Schülerinnen und Schüler ab 14.