Die Nacht ist vorgedrungen
Betrachtung zu einem Weihnachtslied von Jochen Klepper
Bald ist es geschafft. Nächste Woche ist die längste Nacht des Jahres – Wintersonnenwende, wie die Astronomen sagen. Dann geht es wieder aufwärts. Zwar werde ich so schnell noch nicht merken, dass die Nächte wieder kürzer und die Tage länger werden. Aber schon jetzt freue ich mich, wenn es abends wieder lange hell sein wird. Nun denn - die Nacht, die Dunkelheit gehört zum Dezember, ja auch zum Advent dazu. Und auch die vielen Lichter, mit denen Häuser und Straßen und die Wohnungen illuminiert sind. Sie verbreiten eine ganz eigene Stimmung. Ob damit die Dunkelheit vertrieben werden soll – ob sie damit vertrieben werden kann? Dunkelheit und Nacht - und die Sehnsucht nach Licht: In diese Spannung kommt Weihnachten.
Davon schreibt vor über achtzig Jahren, am 18. Dezember 1937, der Schriftsteller Jochen Klepper. Er notiert in sein Tagebuch: „Erst um Mittag begann die fahle Wintersonne zu leuchten. Der Untergang war feierlich und groß. In der Dämmerung standen dann die Laternen wie Fackeln am Saume der Gärten. Die klaren schwarzen Äste über der Decke des Schnees sind so friedvoll; ein Bild der tiefen Ruhe. Ich schrieb am Nachmittag ein zweites Weihnachtslied...“
Musik 1: „Die Nacht ist vorgedrungen“, Strophe 1 (CD: Weihnachtslieder, Carus-Verlag / SWR 2, Orpheus Vokalensemble, Leitung: Michael Alber, Track 17
„Die Nacht ist vorgedrungen.“ Dieses Lied von Jochen Klepper ist kein frohes oder rührseliges Weihnachtslied. Aber ich schätze es trotzdem oder gerade deswegen sehr. Es ist ein sehr verhaltenes Lied. Text und Melodie stellen sich quer zur sonst üblichen, weihnachtlichen „Gefühligkeit“. Aber genau vor dieser weihnachtlichen Gefühligkeit schreckt Jochen Klepper zurück: Illusionen gibt es zu viele rund um Weihnachten. Illusionen, die dann eh einer nüchternen Realität weichen müssen, will Jochen Klepper vermeiden. Die erste Strophe seines Liedes lautet:
Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern.
Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.
Die Nacht ist das entscheidende Motiv dieses Liedes. Die Nacht als Bild hat im gesamten dichterischen Schaffen Jochen Kleppers eine besondere Bedeutung. Nacht ist für ihn selbst ein Bild für ein von Krisen gebeuteltes Leben: 1903 wird Jochen Klepper als erster Sohn einer evangelischen Pfarrerfamilie geboren. Seine Gesundheit ist von Anfang an sehr angegriffen – asthmatische Anfälle und hartnäckige Migräne. Er kann keine öffentliche Schule besuchen. Er wird zuhause unterrichtet. Er will wie sein Vater evangelische Theologie studieren. Wegen seiner angegriffenen Gesundheit muss er sein Studium ohne Examen abbrechen. Das wirft den jungen Mann in eine lang anhaltende Krise. Für ihn ist es Nacht. Die Erfahrung der Nacht kehrt für ihn wieder: Er heiratet eine dreizehn Jahre ältere Jüdin. Dadurch kommt es zum Bruch mit seinem antisemitisch eingestellten Vater. Alle familiären Bindungen werden abgeschnitten. Für ihn ist es Nacht.
Die eigentliche Nacht bricht für Jochen Klepper an, als die Nationalsozialisten an die Macht kommen: Er kann nicht mehr als Schriftsteller arbeiten wie bisher. Er unterliegt strenger Zensur. Er kann nichts ohne Genehmigung publizieren. Der antisemitische Wahn bedroht zunehmend seine Familie. Durch Exil will er seinen Kindern die Zukunft sichern. Als vor Weihnachten 1942 der jüngeren Tochter die Ausreise verweigert wird, bricht die dunkelste aller Nächte über die Familie herein: um der drohenden Deportation in ein Vernichtungslager zu entgehen, beendet die ganze Familie selbst in der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember ihr Leben. Ein tragisches Lebensschicksal. Jochen Klepper weiß, was Nacht bedeutet. Gerade deshalb schreibt er dieses Weihnachtslied. Und auf dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte hat für mich dieser Liedtext eine ungeheure Wucht.
Musik 2: „Die Nacht ist vorgedrungen“, Strophe 2 (CD: Weihnachtslieder, Carus-Verlag / SWR 2, Orpheus Vokalensemble, Leitung: Michael Alber, Track 17
Die Nacht hat in der Tradition der Bibel für den Menschen ein doppeltes Gesicht. Das weiß und erfährt Jochen Klepper: Es gibt die Nacht dämonischer Gewalt. Und es gibt die Nacht besonderer Gottesnähe.
Schon in frühen Mythen ahnt der Mensch die Verwandtschaft der Nacht mit der chaotischen Urfinsternis. Nacht bedeutet da: Der Mensch fühlt sich in der Finsternis allen möglichen und unmöglichen lebensbedrohenden Mächten ausgeliefert. Jochen Klepper hat in den durch seine Krankheit durchwachten Nächten erfahren: Die Nacht kann nicht nur finster, sondern vor allen Dingen auch lang sein! Ähnlich klagt Hiob in der Bibel: „Im Grübeln und bei Nachtgesichten ... kamen Furcht und Zittern über mich.“ (Hiob 4,13) Der Psalmist betet: „Mein Herz grübelt bei Nacht...“ (Ps 77, 7) Diese Seite der Nacht kennen auch viele von uns: Man quält sich aus vielen Gründen durch eine schlaflose und deshalb schier endlose Nacht – und wie wenige sprechen davon, weil sie sich dessen schämen… Da sind Nächte voller Zweifel und Einsamkeit, voller Trauer und Angst; Nächte voller Sorgen und doch auch voller Sehnsucht.
Die Nacht kann auch eine Zeit der Stille sein, Zeit, um Kraft zu sammeln. Sie kann Zeit sein, in der ich besonders empfindsam bin. Manche sind gerade in der Nacht besonders kreativ. Für den religiös sensiblen Menschen ist die Nacht auch Zeit des Gebets, des schöpferischen Schweigens. – Die Nacht als Zeit besonderer Gottesnähe: Auch das gab es schon in der Bibel.
„In der Mitte der Nacht stehe ich auf, dir zu danken…“ heißt es zum Beispiel im Psalm 119. (Ps 119, 62) Der Mensch lobt und dankt Gott in der Nacht – aber er findet bei ihm auch Schutz und Hilfe in der nächtlichen Bedrohung. „Er, der dich behütet, schläft nicht. Nein, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht“, heißt es im Psalm 121. (Ps 121, 3f) Und noch etwas anderes passiert in der Bibel in der Nacht: Göttliche Eingebungen, himmlische Träume und prophetische Worte ergehen da: Isaak erfährt in der Nacht Segen und den Beistand Gottes, Gott spricht in einer nächtlichen Vision zu Jakob, zu Samuel und zu Natan, er erscheint dem Salomo nachts im Traum. Ich denke in dieser adventlichen Zeit natürlich auch an den Engel, der Josef im Traum erscheint und ihm aufträgt, Maria zu sich zu nehmen. Auch das geschieht in der Nacht. Die Nacht ist also auch der Ort, an dem wir Gott ganz nah sein können.
Musik 3: J.S. Bach, Courante aus der Suite Nr. 5 für Cello (CD: Alban Gerhardt, Bach – Britten – Kodàly, Track 12).
Die Nacht hat für den Menschen der Bibel ein doppeltes Gesicht. Sie ist die Zeit dämonischer Bedrängnis, aber sie ist vor allem auch: Zeit, in der wir dem Plan Gottes ganz nah sind. Sie ist Heilszeit. Der christliche Glaube ist überzeugt: In der Nacht entscheidet sich das Heil für den Menschen. Gott beginnt sein Heil dort zu wirken, wo die Not des Menschen am bedrohlichsten erfahren wird – nämlich in der Mitte der Nacht. Da beginnt der neue Tag. Gott antwortet auf die Sehnsucht des von der Nacht bedrängten Menschen. Die großen, rettenden Taten Gottes ereignen sich in der Bibel alle in der Nacht: der Durchzug durch das Rote Meer, die Berufungen der Propheten, das Pesach-Mahl Jesu mit seinen Jüngern, die Osternacht – vor allem aber die Weihnacht auf den Feldern von Bethlehem. Deswegen feiern wir Weihnachten an Heiligabend und in der Nacht, und auch die Christmetten finden spätabends, im Dunkel der Nacht statt.
In seinem Weihnachtslied versucht Jochen Klepper, diese spirituelle Erfahrung der Nacht in paradoxe Bilder zu fassen: „Gott will im Dunkeln wohnen und hat es doch erhellt,“ heißt es in der letzten Strophe. Gott wohnt im Dunkeln. Keiner hat Gott gesehen. Für viele ist heute Gott einfach verborgen. Sie finden zu ihm keinen Zugang. Er ist fremd. Er ist unbekannt. Advent und Weihnacht aber sagen: Diese dunkle Verborgenheit Gottes bekommt ein menschliches Antlitz. Gott, der verborgen über alles erhaben ist, „dem alle Engel dienen“ – wie Jochen Klepper dichtet – „wird Kind und Knecht“. Von diesem verborgenen Gott im Kind, „von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her“. Wer auf Jesus schaut, bekommt eine Ahnung von Gott! Das hört sich fast banal an, ist aber der Dreh- und Angelpunkt des christlichen Glaubens: Denn dieses Kind im Stall will auch davor bewahren, dass wir uns Gott falsch und verzerrt vorstellen, oder dass er sogar ideologisch missbraucht wird. Wer auf Jesus schaut, kann keinen gewalttätigen Gott verkünden, auch keinen herrischen Gott, mit dem ich eigene Machtansprüche untermauern könnte, auch keinen menschenverachtenden Gott, auch keinen leibfeindlichen Gott, auch keinen so jenseitigen Gott, dem Schöpfung und Mensch gleichgültig wären. Gott wird in Jesus Christus Mensch – das ist die leibgewordene Liebe, die Zuwendung, die Freundlichkeit Gottes!
Gott kommt mitten in der Nacht zur Welt, er will die Nacht des Menschen erhellen – auch die Nacht der Schuld und des Versagens. Menschen fügen einander immer wieder schreckliches Leid zu. Überall, wo Menschen sind, kommt das vor. Aber Gott lässt den Menschen auch in dieser Nacht nicht allein, wie Jochen Klepper dichtet: „Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt, er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.“ Wie viele Menschen leiden unter dem, was sie verschuldet haben, können sich und anderen nicht vergeben. Das Leiden unter der Schuld kann der Anfang zu aufrichtigem Bekehren sein, kann wieder Licht in das Dunkel der Nacht bringen, das wir durch unser Tun angerichtet haben. Und wir dürfen zuversichtlich sein: Gott kann auch diese Schuld vergeben, wenn wir aufrichtig umkehren. Dann kann es Weihnachten werden. Denn Weihnachten heißt: Gott hat sich entschieden und endgültig auf die Seite des Menschen gestellt:„Al s wollte er belohnen, so richtet er die Welt.“ – „Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr.“ Und damit ist auch klar: Wer an diesen Gott glaubt, muss sich auch selbst entschieden auf die Seite des Menschen stellen, gerade auf die Seite des Schwachen, auf die Seite dessen, der auf der Schattenseite des Lebens steht, auf die Seite dessen, der allen anderen egal ist. Nur so wird wahr: „Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr.“
Musik 4, „Die Nacht ist vorgedrungen“, Strophe 3 und 4 (CD: Weihnachtslieder, Carus-Verlag / SWR 2, Orpheus Vokalensemble, Leitung: Michael Alber, Track 17).
Für mich steckt in diesem Lied von Jochen Klepper sehr viel Trost und viel Licht, auch deshalb, weil es die Dunkelheit benennt. Dieses Lied stimmt auf Weihnachten ein. Jede Strophe spricht von Ermutigung. Aber es ist ein ehrlicher und nüchterner, kein illusionärer Trost. Das macht mir dieses Lied so wertvoll. Nacht und Dunkel werden in Kontrast gesetzt zu Licht und Tag – aber so, dass die Spannung nicht aufgelöst wird: Noch ist Nacht, auch wenn der Tag bereits naht. Und: auf den hellen Tag folgt leider auch wieder eine dunkle Nacht. So ambivalent ist das Leben. Es entspricht meiner eigenen Erfahrung: Der Glaube bewahrt mich nicht vor den dunklen Stunden in meinem Leben. Aber der Glaube gibt mir Halt. Und schon oft habe ich die Erfahrung gemacht: ganz unverhofft kommt irgendwoher Licht in meine Dunkelheit. Manchmal reicht dafür schon der ermutigende Blick eines aufmerksamen Menschen. Oder ein schlichtes Wort. Eine stille Umarmung. Das offene Ohr eines Anderen.
Es stimmt aber auch: „noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und –schuld“. Jochen Klepper kennt den Menschen. Er hat während der NS-Zeit erleben müssen, wozu der Mensch fähig ist. Wenn ich mir so manche gesellschaftliche Entwicklung anschaue und mich frage: Haben wir wirklich nicht dazugelernt? Dann gilt auch hier: „noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.“ Und ich frage mich: Wie kann ich, wie kann jeder von uns mitwirken, dass jene Nächte schwinden, die Menschen noch und wieder neu gefangen halten können?
Jochen Klepper setzt mit seinem Weihnachtslied auf eine „nüchterne Hoffnung“. Das sehe ich als Stärke meines Glaubens: Ein nüchterner Blick auf das Leben. Und dennoch voll Hoffnung. So auf Weihnachten zuzugehen, bewahrt mich vor einer falschen Weihnachts-Gefühligkeit.
So ist mir die vierte Strophe des Liedes die liebste: Diese nüchterne Sicht, diesen Trost und diese Hoffnung aus dem Glauben wünsche ich mir und Ihnen in diesen Tagen und Nächten vor Weihnachten und darüber hinaus.
Musik 5: „Die Nacht ist vorgedrungen“, Strophe 1-4 (CD: Weihnachtslieder, Carus-Verlag / SWR 2, Orpheus Vokalensemble, Leitung: Michael Alber, Track 17).