Verbotene Bücher
An diesem Wochenende hat wieder einmal die documenta in Kassel ihre Türen geöffnet. Die Ausstellung in Athen, dem zweiten Documenta-Standort, öffnete ihre Tore schon im April. Aber für die Menschen in Nordhessen wurde es erst richtig greifbar, durch die Baustellen, die in Kassel für die Kunst errichtet wurden. Da waren die Vorzeichen unverkennbar. Am auffälligsten direkt vor dem Hauptgebäude der documenta: Auf dem Platz vor dem Fridericianum. Hier wurde mit einer riesigen Stahlkonstruktion der Parthenon Tempel auf der Akropolis in Athen nachgebaut. In Originalmaßen. Es entstand über viele Wochen das Werk der argentinischen Künstlerin Marta Minujin „The Parthenon of Books“ – der Parthenon der Bücher.
Die Säulen und Wände des Stahlgerüstes sind mit Büchern behängt. Mehr als 50.000 Bücher, die einmal verboten waren oder gegenwärtig verboten sind. In Deutschland oder irgendwo auf der Welt. Dieses Objekt ist nicht neu. Die Künstlerin hat es in den 80er Jahren schon einmal in ihrer Heimat aufbauen lassen. Nach dem Ende der Militärdiktatur in Argentinien verkörperte der Parthenon der Bücher in Buenos Aires die Rückkehr zur Demokratie und zu einer offenen Gesellschaft, in der es Meinungs- und Pressefreiheit gibt. Besonders am Ende der Aktion wurde das deutlich, als damals der Tempel mit Kränen gekippt wurde. Die Bücher fielen so wortwörtlich wieder in die Hände der Menschen.
Hier in Kassel nun steht der Bau vor dem Fridericianum, das vor dem 2. Weltkrieg eine Bibliothek beherbergte. Und es steht auf dem Platz, auf dem 1933 die Nazis im Zuge der Aktion‘ wider den undeutschen Geist‘ rund 2000 Bücher kritischer Autoren verbrannten: Thomas Mann, Erich Kästner, Nelly Sachs, Kurt Tucholsky, Lion Feuchtwanger und viele, viele andere. Ihre Namen finden sich heute unter anderen auf den Büchern, die die Wände des Parthenon der Bücher umkleiden.
Mich beeindruckt diese Installation – allein schon wegen ihrer Größe und ihres Standorts mitten im Stadtraum. Aber zugleich verblüfft sie mich auch. Verbotene Bücher? Hier mitten im Kassel des 21. Jahrhunderts? Wir hofften, dass es nach der Nazidiktatur bei uns keine verbotenen Bücher mehr gibt. Aber wir erleben gerade, wie in der Türkei nicht nur Bücher, sondern auch kritische Zeitungen und Journalisten bedroht und verhaftet werden. Und nicht nur in der Türkei. Es gibt viele Länder, in denen Bücher verboten sind. Journalisten dürfen auch nicht frei berichten. Zeitweise wird das Internet abgeschaltet, um die Nachrichten von Bloggern nicht zu den Menschen vordringen zu lassen. Dabei verbreiten sich heute in Zeiten des Internets, des weltweiten Netzes, Nachrichten, Bilder und Texte so schnell, dass man sie kaum noch zurückholen kann. Aber die Abschottung, die man braucht, um unliebsame Nachrichten und Gedanken zu unterdrücken, nehmen manche Staaten in Kauf- auch wenn es wirtschaftliche Folgen hat. Nordkorea ist dafür ein prominentes Beispiel.
Es gibt viele gute Gründe, Bücher nicht zu verbieten. Einer davon ist, dass man Gedanken und Ideen nicht kontrollieren kann. Sie finden ihren Weg. Und die technischen Möglichkeiten des Internet sind da noch eine Hilfe. Aber schon in meiner Schulzeit, in der es noch gar kein Internet gab, habe ich gelernt, dass Ideen und Gedanken, die einmal gedacht wurden, nicht einfach wieder aus der Welt geschafft werden können. Wir haben in der 11. Klasse „Das Leben des Galilei“ von Bertold Brecht gelesen. Dem Astronomen Galilei droht die Inquisition mit Folter. Er soll seiner Theorie abschwören, dass nicht die Erde, sondern die Sonne den Mittelpunkt unseres Planetensystems bildet. Aus Angst vor Schmerzen nimmt Galilei seine Theorie zurück. Daraufhin darf er sich in ein Landhaus zurückziehen, von der Kirche scharf bewacht, und beteiligt sich nicht mehr an wissenschaftlichen Disputen. Seine Entdeckung, seine Theorien haben sich dennoch durchgesetzt. Auch mit Gewaltandrohung waren sie nicht aufzuhalten. Es hat etwas länger gedauert. Aber nach ihm kamen andere, die zu gleichen Ergebnissen bei ihren Forschungen kamen. Erkenntnis und Wahrheit lässt sich nicht aufhalten. Ganz egal welcher Art sie ist. Ob wissenschaftliche Theorie oder philosophische Erkenntnis, ob in Abhandlungen, Romanen oder Gedichten beschrieben.
Ein Gedanke, der einmal in der Welt ist, lässt sich nicht mehr auslöschen. Es ist so, als ließe er sich nicht einsperren zwischen zwei Buchdeckel. Und das hat nicht nur mit technischen Möglichkeiten zu tun, sondern es hängt vor allem an der Überzeugungskraft eines Gedankens.
Das ist die besondere Kraft von Büchern, aber auch von Zeitungsartikeln, Blogs oder sozialen Netzwerken. Das macht sie gefährlich in den Augen von totalitären Machthabern. Sie transportieren Gedanken. Sie inspirieren Menschen. Sie bringen uns voran. Sie geben wichtige Impulse und wecken Ideen und Fragen in uns. Sie unterhalten uns. Manchmal setzen sie sich kritisch mit gesellschaftlichen und politischen Fragen auseinander. Und manchmal geben sie auch Hoffnung und Trost. Genau deshalb werden Bücher und ähnliche Medien verboten.
So formen Bücher nämlich unser Denken und damit auch uns selbst. Das fängt schon in der Kindheit an. Viele kennen das. Da gibt es Bücher, die wir immer und immer wieder unseren Kindern und Enkeln vorlesen müssen. Sie können sie irgendwann auswendig. Sie sprechen den Text mit. Und trotzdem. Immer wieder von vorne beginnen. Wir tuen gut daran, die Bücher für unsere Kinder sorgfältig auszuwählen. Denn sie können sie prägen mit ihrer Art zu denken, mit den darin enthaltenen Werten. Sie zeigen eine Sicht auf die Welt und auf das menschliche Miteinander. Deshalb lesen viele Eltern mit ihren Kindern auch in der Bibel. Weil sich darin Gottvertrauen und die Liebe zum Nächsten ausdrückt.
Wenn ich heute als Erwachsene lese, müssen die Geschichten nicht immer so klar sein und ein gutes Ende nehmen. Aber es ist großartig, wenn ich mich in die Gedankenwelt eines Buches hineinlesen kann. Toll, wenn ein Buch mich wie durch eine fremde Landschaft führt, in der ich Neues entdecke. Es gibt Bücher, die lese ich mehrmals. Manchmal ist es ganz erstaunlich, wie sie auch nach einigen Jahren wieder die gleiche Begeisterung hervorrufen können oder wie plötzlich noch einmal ganz neue Gedanken wichtig werden, wie Figuren aus Romanen einem ans Herz wachsen. Manchmal tauchen in Büchern auch Gedanken auf, die mir fremd sind. Sie stoßen mich sogar ab. Dennoch muss ich mich mit ihnen auseinandersetzen. Da kann es schon mal passieren, dass ich dabei ganz neue Erkenntnisse gewinne. Ein bestimmter Satz, ein Gedanke bringt in mir etwas zum Schwingen. So wird Lesen zu einem inneren Weg, auf den ich mich mitnehmen lasse.
So betrachtet ist es eigentlich kein Wunder, dass auch in den großen Weltreligionen Bücher eine wesentliche Rolle spielen. Bücher transportieren Gedanken und Ideen. Sie halten sie bereit für den, der die Seiten aufschlägt und liest. In den heiligen Büchern der Religionen – in der Thora, in der Bibel oder dem Koran – werden ihre grundlegenden Erzählungen und Einsichten bewahrt. Sie bieten eine Orientierung in den wesentlichen Lebensfragen. Woher kommen wir und wo gehen wir hin? Wie sollen wir mit anderen Menschen zusammenleben? Wie und worin zeigt sich Gott? Was ist das Ziel unseres Lebens und unsere Hoffnung? Indem das aufgeschrieben wird, bekommen die Erzählungen und Gedanken Dauer. Man kann sie nachlesen, man kann sie auswendig lernen. Das ist wichtig, damit man als Glaubensgemeinschaft eine gemeinsame Identität entwickeln kann.
Es reichte nicht, dass man die heiligen Geschichten und Texte kannte und weitererzählte. Mit viel Mühe haben Menschen sich darangemacht, dies alles aufzuschreiben. Auf Wände, auf Papyri, auf Schriftrollen und später auch in Bücher. Nur so, mit geschriebenen Texten, ließ sich gesichert etwas weitergeben über Jahrhunderte und Jahrtausende. Die alten Handschriften kann man heute in Museen bewundern. Wie aufwändig und mühsam das gewesen sein muss, einen so langen Text wie die Bibel von Hand abzuschreiben! Und wieviel Liebe und Kunstfertigkeit wurde darauf verwendet, die Seiten oder Anfangsbuchstaben zu verzieren! Das macht man nur bei wichtigen Texten. Texten, die man durchdrungen hat und von denen man selbst durchdrungen ist.
Durch die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert haben Bücher noch einmal eine andere Bedeutung gewonnen. Da man Bücher nun so schnell und auch kostengünstig herstellen konnte, wurde endgültig klar: Die heiligen Bücher sind keine geheimen Schriften, die nur einer ganz bestimmten Führungsgruppe zugänglich sind, einer Priesterschaft oder den Gelehrten. Jeder konnte nun selbst lesen und sich kundig machen. Für den evangelischen Kirchenvater Martin Luther war das vor 500 Jahren ein wichtiges, ein zentrales Anliegen. Und es war ein demokratisches Element in einer sonst sehr hierarchischen Gesellschaft, auch einer sehr hierarchischen Kirche. Möglichst jeder und jede sollte Lesen und Schreiben lernen, damit die Texte der Bibel selbst gelesen werden konnten. Von jedem Mann, von jeder Frau. Und zwar nicht in Gelehrtenlatein, sondern in der Muttersprache Deutsch. Die Menschen sollten sich selbst einen Eindruck verschaffen mit eigenen Augen. Nicht nur vermittelt über den Pfarrer oder Priester. Selber lesen und denken. Sich ansprechen lassen, sich herausfordern lassen, durch die Worte der Heiligen Schrift.
Dass Lesen und die Beschäftigung mit Texten Leben verändern kann, beschreibt auch eine Geschichte im Neuen Testament. In der Apostelgeschichte finden wir die Erzählung vom Kämmerer aus Äthiopien. Ein mächtiger Mann war er. Und reich muss er auch gewesen sein. Denn er konnte sich die weite Reise nach Jerusalem leisten, wo er im Tempel beten wollte. Und er konnte es sich leisten, eine Schriftrolle mit den Worten des Propheten Jesaja zu kaufen. Ein unschätzbarer Wert. Auch damals schon. Mit dieser Schriftrolle ist er nun auf dem Heimweg. Er sitzt auf seinem Wagen und liest. Da spricht ihn Philippus, der Apostel, an und fragt ihn: Verstehst du auch, was du liest?
Der Kämmerer bittet ihn, zu ihm auf den Wagen zu steigen. Und so entspinnt sich ein Gespräch zwischen den beiden, mit dem Text und über den Text. Philippus erzählt dem Kämmerer von seiner Erfahrung mit Jesus und wie er nach dieser Erfahrung, nach dem gemeinsamen Weg die Worte des Propheten versteht. Der Kämmerer hat viele Fragen. Das gemeinsame Lesen verbindet die beiden. Am Ende lässt sich der Kämmerer taufen. (Apg. 26ff) Die Worte aus der Schriftrolle und die Auslegung des Philippus haben ihn überzeugt. Aus dieser Begegnung der beiden über den Worten der Bibel soll die älteste Kirche Afrikas entstanden sein, die äthiopische Kirche.
Dieses Potential, das in den Worten eines Buches stecken kann, fürchten Machthaber, die Bücher verbieten: Worte, die bewegen, die Menschen dazu bringen, ihr Leben zu ändern. Die Bibel war auch immer wieder einmal ein verbotenes Buch, im frühen Christentum ebenso wie unter kommunistischen Regimes des vergangenen Jahrhunderts. Und sie ist auch heute noch verboten, etwa in Saudi-Arabien oder in Nordkorea. Die Texte der Bibel fordern heraus. Manche Regimes versuchen sich dieser Herausforderung durch ein Verbot zu entledigen. Oder sie manipulieren die Botschaft in ihrem Sinn. Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten etwa hat man versucht, die Botschaft von der umfassenden Liebe Gottes zu den Menschen zu verfälschen. Man hat die antijudaistischen Passagen aus dem Matthäusevangelium hervorgehoben, um den Hass auf die Juden zu legitimieren.
In unserer freien und demokratischen Gesellschaft gehen wir anders damit um, Gott sei Dank. Aber auch heute empfinden Menschen manche Texte aus der Bibel als anstößig. Einen solchen Satz zitiert ein anderes Außenkunstwerk der documenta auf dem Königsplatz. Auf einem 16 m hohen Obelisken ist in Deutsch, Türkisch, Englisch und Arabisch ein Vers aus dem Matthäusevangelium zu lesen: Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt. Das ist in Zeiten, in denen viele Menschen auf der Flucht sind, ein deutliches Statement. Die Vorübergehenden werden dazu unterschiedliche Meinungen haben. Das dürfen sie auch. Dennoch bleibt dieses Kunstwerk ein Mahnmal.
Die Auseinandersetzung um die biblische Botschaft ist bei uns gewünscht. Im Gespräch, durch Fragen und indem wir Meinungen austauschen. Immer im gegenseitigen Respekt vor dem anderen und seinen Erfahrungen und Einsichten. Die Vielstimmigkeit ist im Lauf der Jahrhunderte auch zu einem Zeichen der Christenheit geworden. Christen aus allen Ländern der Erde, Männer und Frauen, Gelehrte und einfache Gläubige bekennen auf vielerlei Weise und doch gemeinsam. Und nicht zuletzt halten uns dabei die Worte der Bibel beieinander.
So habe ich der documenta eine Bibel überlassen für den Parthenon der Bücher. Irgendwo zwischen den 50.000 anderen Büchern wird sie ihren Platz gefunden haben. Ich hoffe, dass die uralten Worte und Gedanken, die darin stecken, weiter gelesen werden und Menschen bewegen. Ich hoffe, dass sie weiter provozieren und uns anstoßen, unser Handeln zu überprüfen. Ich hoffe und wünsche, dass die Bibel überall auf der Welt gelesen und diskutiert werden darf. Ohne Verbote und Strafen. Und ich hoffe, dass sie vielen Menschen Trost und Hoffnung schenkt in schwierigen Zeiten und unter schwierigen Umständen. Das wünsche ich jedem, der die Seiten aufschlägt und liest.