"Komm, ich will dir was zeigen"
„Komm, ich will dir was zeigen“, sagt meine zwei Jahre alte Enkeltochter zu mir. Sie nimmt mich bei der Hand und führt mich in den Garten, der hinter unserem Haus liegt. Dort haben wir vor Jahren einen Teich angelegt, der das Regenwasser vom Scheunendach auffängt. In dem kleinen Teich ist viel Leben – Frösche, Fische, Molche, Libellen tummeln sich da. An dem Zaun um diesen Teich bleibt meine Enkelin stehen und geht in die Hocke. Mit ihrem Zeigefinger deutet sie auf einen kleinen Frosch, der sich auf einem Teichrosenblatt sonnt. Den hat die Kleine entdeckt und wollte ihn mir unbedingt zeigen.
Dass in dem Teich Frösche sind, wusste ich. Doch wie stark das Kind davon fasziniert ist, berührt mich. In diesem Moment gibt es nichts Anderes. Sein ganzes Interesse, die Aufmerksamkeit, seine ganze Wahrnehmung gilt dem kleinen Frosch auf dem Seerosenblatt. Diesen Moment will das Kind mit mir teilen. Wann bin ich als Erwachsener so fasziniert, dass ich das unbedingt jemandem zeigen will? Das Meiste, was an einem Tag geschieht, läuft routinemäßig ab – frühstücken, arbeiten, Auto fahren und so weiter. Was sollte davon schon faszinierend sein?
Vielleicht muss ich das von einem Kind wieder lernen: von etwas fasziniert, ganz und gar erfüllt zu sein. Vielleicht sind es die kleinen Dinge, die ich wieder aufmerksam sehen und auf mich wirken lassen sollte. Ein Frosch auf einem Teichrosenblatt, eine Wolke am Himmel, ein Blumenstrauß, das Stück Himmel, das ich durch mein Bürofenster sehe.
Das ist alles nur ein Ausschnitt des Ganzen – nicht mehr. Doch je nachdem, aus welchem Blickwinkel ich die Dinge ansehe und mit welcher inneren Beteiligung, wirken sie ganz unterschiedlich.
In der Liedersammlung der Bibel, den Psalmen, kann man das nachlesen. In einem Psalm hat der Dichter die alltäglichen Dinge des Lebens angeschaut und in jedem etwas Wunderbares gesehen.
Er sieht das Gras in den Wiesen;
Es wächst als Futter zum Nutzen des Viehs.
Er betrachtet den Weinstock.
Daraus wird Wein, der des Menschen Herz erfreut.
Er sieht das Getreide draußen im Feld.
Aus seinen Körnern wird Brot,
von dem wir und unsere Kinder leben.
(Psalm 104)
Meine zweijährige Enkeltochter und ich sind dann Hand in Hand von dem Teich wieder zum Haus gegangen. Der kleine Frosch war natürlich längst von seinem Sonnenplatz auf dem Teichrosenblatt zurück ins Wasser gesprungen. Wir hatten ihn dann doch irgendwie gestört. Doch das Kind erzählt immer noch von ihm. Die Faszination, welche dieses kleine Erlebnis ausgelöst hat, war noch lange zu spüren bei meiner Enkelin und auch bei mir. Wenn ich manchmal die Welt mit Kinderaugen sehe, entdecke ich auch wieder die kleinen Wunder.