Schreiben kann heilen

Schreiben kann heilen

Rüdiger Kohl
Ein Beitrag von Rüdiger Kohl, Evangelischer Pfarrer, Frankfurt-Bockenheim

Es ist viertel nach zehn am Abend. Stefan Bauer, ich nenne ihn jetzt mal so, sitzt aufrecht in seinem Bett. Er greift zu seinem Kugelschreiber und seiner Kladde, die er immer auf dem Nachtschränkchen liegen hat. Jeden Abend das gleiche Ritual, das er seit drei Wochen pflegt: Bevor er das Licht ausmacht, schreibt er drei Momente oder Ereignisse des Tages auf, die er als positiv erlebt hat. Oder sogar als beglückend. Manchmal muss er länger nachdenken. Doch heute kommen ihm sofort drei Ereignisse in den Sinn: Auf der Arbeit hatte er ein klärendes Gespräch mit einer Kollegin. Nach Feierabend hat er sich eine Jacke gekauft, die ihm gut steht. Und gegen Abend ein schönes Telefonat mit seiner Mutter geführt. Alles keine großen Sachen. Aber sie sind mit guten Gefühlen verbunden. Dann macht er das Licht aus.

Stefan Bauer schreibt ein Glückstagebuch. Das ist eine der Formen des therapeutischen Schreibens, die viele Menschen gerade neu entdecken. Denn Schreiben kann heilsam sein, wie eine kleine Therapie. Gerade wenn tagsüber vieles schnell gehen muss, tut ein Moment des stillen Gesprächs mit sich selbst gut. Die Ärztin Silke Heimes betreibt ein Institut für kreatives und therapeutisches Schreiben und untersucht die Wirkungen des Schreibens wissenschaftlich. Sie kann belegen, dass Schreiben helfen kann, Gedanken und Gefühle zu ordnen und zu klären, was wirklich wichtig ist im Leben. Zum Beispiel in der Phase einer schweren Krankheit. Die Schreibtherapie sollte in Krankenhäusern und Praxen viel intensiver genutzt werden. Sie orientiert sich dabei als Ärztin an einem berühmten Mediziner in der Antike, der lehrte: „Zuerst das Wort, dann die Pflanze, dann das Messer.“

Wichtig ist ihr aber auch: Auch gesunde Menschen können eine Art Selbsthilfe für den Alltag finden. In ihrem Buch „Schreiben als Selbstcoaching“ beschreibt sie eine alltägliche Situation: „ Sie hatten Streit mit ihrem Beziehungspartner und sind aufgewühlt. Sie schreiben auf, was passiert ist und wie Sie sich fühlen. Das werden Sie wahrscheinlich in der Gegenwartsform formulieren, weil es Ihnen nahe geht. Nun könnten Sie den Text in die Vergangenheitsform umschreiben. Schon rückt das Geschehen etwas weiter weg. Sie können anders darüber nachzudenken. Oder Sie schreiben einen Brief an Ihren Partner. Das ist in hitzigen Situationen oftmals hilfreicher als ein direktes Gespräch.“ Soweit die Ärztin.

Allerdings: Es fällt vielen Menschen nicht leicht, mit dem Schreiben zu beginnen. Es ist oft ein ganz ungewohntes Gefühl, mal wieder etwas mit der Hand zu schreiben. Aber wenn man in stabilen Zeiten mit dem Schreiben anfängt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es in schwierigen Zeiten zur Verfügung steht, als Selbsthilfe. Und es braucht ein gewisses Maß an Übung und Disziplin, um wirklich davon zu profitieren.

Stefan Bauer ist manchmal von sich selbst überrascht, dass er diese Disziplin für sein Glückstagebuch aufbringt. Na ja, manchmal ist er zu müde, um noch mal seine Gedanken zu sammeln. Aber er merkt: Es tut ihm gut, sich schöne Momente noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Zu dem Ritual gehört, dass sich Stefan am nächsten Morgen, vor dem Aufstehen, das Aufgeschriebene noch einmal kurz durchliest. Und damit in den Tag startet.

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