Singen - im Leid

Singen - im Leid

Rüdiger Kohl
Ein Beitrag von Rüdiger Kohl, Evangelischer Pfarrer, Frankfurt-Bockenheim

Es gibt Menschen, die sagen: „Ich kann nur singen, wenn es mir gut geht. Wenn ich glücklich bin. Im Leid kann ich nicht singen. Wenn ich traurig bin, bekomme ich keinen Ton heraus.“

Ich habe eine andere Erfahrung gemacht. In der Gemeinde, in der ich Pfarrer bin, in Frankfurt-Bockenheim, gibt es jetzt einen Gospel-Projektchor. Und der hat einen Gottesdienst gestaltet, ausgerechnet zu Beginn der Passionszeit. Einige aus der Gemeinde waren davor  irritiert. In der Passionszeit wird an den Leidensweg Jesu Christi gedacht. Sie befürchteten: Dazu passt keine Gospelmusik, kein fröhlicher Gesang, keine ausgelassene Stimmung. Danach haben sie anderes gedacht. Denn diese Musik hat eine große Kraft, man erinnere sich nur an den Film „Sister Act“.

Woher kommt diese Musik? Was ist ihr Ursprung? Gospels haben sich aus den Spirituals entwickelt, aus den Songs der schwarzen Sklaven in Amerika. Wer die Überfahrt von Afrika nach Amerika überlebt hatte, den erwartete ein grausames Schicksal. Getrennt von ihren Familien, tausende Kilometer entfernt von zu Hause, arbeiteten sie auf den Baumwoll- und Zuckerrohrplantagen in Hitze und Kälte für ihre weißen Unterdrücker, nur für Essen und ärmliche Unterkunft. Einen Halt und eine starke Hoffnung fanden die schwarzen Sklaven gerade in der Religion der Menschen, die sie unterdrückten. Ihre Gospels besingen den Gott, der sein Volk Israel aus der Sklaverei befreit hat. Der das Rote Meer geteilt und sein Volk durch die Wüste nach Hause geführt hat. Aber auch die Leidensgeschichte Jesu hat die Sklaven berührt. Sie sahen, dass er selbst gelitten hat, ans Kreuz gebracht wurde, ins Grab gelegt wurde. Und von Gott auferweckt wurde. Jesus wurde von Gott aus der Gefangenschaft des Todes befreit.

Sie haben sich damit identifiziert. Das Singen war eine der wenigen Ausdrucksmöglichkeiten, die ihnen erlaubt waren. So haben sie ihre Sehnsüchte laut gemacht. Im Singen standen diese unterdrückten Menschen auf gegen das Unrecht, gegen ihre Traurigkeit, gegen den Tod. Sie haben ihre Gefühle nicht versteckt, sondern ausgedrückt; sie haben das Leid nicht verschwiegen, sondern in Worte und Töne gepackt. Damit haben sie Befreiung und Solidarität gefeiert.

Der Gospel-Chor in unserem Gottesdienst hat diese Gefühle nachempfunden. In einem der Songs hieß es: „Durch Gottes Macht bin ich frei und gerettet!“ Spirituals sind Passionsmusik, Musik, die in die Zeit passt, in der an das Leiden Jesu gedacht wird. Sie besingt: Das Leben ist verletzlich.  Und gleichzeitig scheint in den Gospels die gute Nachricht vom Sieg über den Tod auf. Beides gehört zusammen. So wie die Passionszeit ohne die Freude an Ostern sinnlos wäre.

Manchmal fällt das Singen schwer. Doch man kann auch singen und Musik machen, obwohl das Leben schwer und oft ungerecht ist. Oft ist das Singen ein Protest gegen die Traurigkeit. Lieder können trösten. Singen hilft, anders und neu mit dem Leben umzugehen.

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