Himmel und Hölle

Himmel und Hölle

Martin Vorländer
Ein Beitrag von Martin Vorländer, Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt

Es gibt das alte Kinderspiel „Himmel und Hölle“: Ein quadratisches Papier wird so gefaltet, dass es geschlossen wie ein Schnäbelchen aussieht. Man kann die Spitze in zwei Richtungen öffnen. Entweder es erscheint die helle Seite: der Himmel. Oder es öffnet sich die schwarz angemalte Seite: die Hölle. Das eine kann spielend ins andere umschlagen.

Himmel und Hölle liegen nahe beieinander. So ist das auch in der Familie. Familie, ein schillerndes Wort, ein Wort mit Tausenden von Assoziationen. Jeder hört es anders, jede sagt es anders. Manch einer hört dabei Pflicht, andere verstehen Heimat. Die einen erinnern sich an die Konkurrenz unter Geschwistern. Andere kämpfen mit der Erfahrung, wie sie in der Familie misshandelt und missbraucht wurden. Wieder andere verbinden mit Familie den einzigen Platz, an dem es vorbehaltlose Liebe gibt, den Platz im Leben, zu dem sie immer wieder zurückkommen können.

Himmel und Hölle nahe beieinander: Es kann das größte Glück auf Erden bedeuten, einen Menschen fürs Leben gefunden zu haben und gemeinsam eine Familie zu gründen. Doch dieses Glück ist kein fester Besitz. Das Leben in Ehe, Partnerschaft und Familie steht nie still. Es verändert sich ständig und ist gefährdet, zur Hölle zu werden. Jeder Mensch hat Familie. Auch wenn ich selbst keine Kinder habe, komme ich aus einer Familie und lebe in familiären Bezügen. Die Familie ist der Ort, an dem wir geprägt werden, für immer. Die einen danken Gott für alles, was sie durch die Familie geschenkt bekommen haben. Und andere sind ein Leben lang auf der Flucht vor dem, was die sie in der Familie erleben mussten. Was hilft Paaren, was stärkt Familien, damit sie auch durch Schwierigkeiten hindurch glücklich leben?

1. Musik

Was stärkt Familien? Dieser Frage ist die Evangelische Kirche in Deutschland nachgegangen. Sie hat  ein Papier über Familie veröffentlicht mit dem Titel: „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“. Der Titel zeigt die Richtung. Es geht darum, Familien zu stärken. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, steht auf den ersten Seiten der Bibel.1 Menschen sind „zur Gemeinschaft bestimmt und auf Liebe, Fürsorge, Erziehung und Pflege angewiesen.“ 2 Gleichzeitig will und muss jeder Mensch sich auch als eigenständig entdecken. Familie als verlässliche Gemeinschaft, in der Menschen zwischen den beiden Polen Autonomie und Angewiesenheit gut leben können. Darin soll Familie gestärkt werden.

Das Familienpapier der Evangelischen Kirche spricht brennende Themen an: Zeit für Familie ist knapp geworden. Wir alle müssen für unsere Arbeitsstellen flexibel sein. Die Logik im Beruf heißt meistens: Zeit so effizient wie möglich nutzen. Das passt nicht zur Logik im Familienleben. Da geht es oft darum, Zeit verlieren zu können. Jeder Tag verläuft anders als geplant. Der Kindergarten ruft an: Die Tochter ist krank und muss abgeholt werden. Schon müssen die Eltern umorganisieren: „Kannst du sie abholen? - Nein, geht nicht, ich kann von der Arbeit nicht weg. – Ich eigentlich auch nicht.“ Der Beruf und die Sorge für die Familie sind oft nicht unter einen Hut zu kriegen. Eltern brauchen Unterstützung.

Ein Sprichwort aus Afrika sagt: „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Da ist viel Wahres dran. Erst recht für alleinerziehende Mütter und Väter. Bei ihnen kommen oft noch finanzielle Schwierigkeiten dazu, besonders bei Frauen: Fast jede zweite Alleinerziehende ist von Armut bedroht. „Meine Tochter hat es schwer, weil sie ohne Vater aufwächst“, befürchtet eine alleinerziehende Mutter. Stimmt. Aber auch Familien mit Vater, Mutter, Geschwistern haben ihre Herausforderung. „Du bist schließlich schon groß“, muss sich die älteste Tochter von klein auf anhören. Das Sandwich-Kind in der Mitte kommt zu kurz, weil die Eltern sich um die Älteren oder Jüngeren Sorgen machen. Das Einzelkind erhält die doppelte Portion Liebe seiner Eltern. Das ist mal himmlisch, mal anstrengend.

Beruf und Familienleben prallen aufeinander. Das geht auch Familien so, die sich um einen  pflegebedürftigen Angehörigen kümmern. Eine erwachsene Tochter will für ihre Mutter nach deren Schlaganfall nur das Beste. Sie holt die Mutter zu sich nach Hause. Mit ihrer Schwester teilt sie sich die Aufgaben: Die eine kümmert sich um die Formalitäten. Die andere organisiert eine gute Pflegekraft. Doch die erste Pflegerin wirft schon nach drei Tagen das Handtuch, weil die Mutter sie nicht akzeptiert. Die beiden Schwestern müssen neu anfangen, Hilfe zu finden – neben ihren eigenen Kindern und ihrem Beruf.

Familienpolitik ist nicht „Frauen und Gedöns“, wie ein früherer Bundeskanzler meinte. Familienpolitik ist ein harter Faktor für eine tragfähige Gesellschaft. Wie stärken wir Familien in unserem Freundeskreis, im Stadtviertel oder Dorf, in Kirchengemeinden? Ein erster Schritt: indem wir Familien vorbehaltlos willkommen heißen, egal in welcher Konstellation, ob als Vater, Mutter, Kinder, als Alleinerziehende, als so genannte Regenbogen-Familie mit zwei Frauen oder zwei Männern als Eltern, als Familie mit einem pflegebedürftigen Familienmitglied. Damit ist noch kein Problem gelöst. Aber für Familien ist es eine Entlastung zu spüren: Wir sind als Familie nicht allein. Wir als Kleinfamilie müssen nicht alles leisten. Die Familie stärken heißt auch, sie von zu hoch geschraubten Ansprüchen zu entlasten.

2. Musik

Was stärkt Familien? Dazu hat die Evangelische Kirche ein  Papier herausgegeben. Um dieses Familienpapier gibt es Streit. Katholische Bischöfe kritisieren es scharf – und müssen sich derzeit selber bei ihrer Bischofssynode in Rom der Herausforderung stellen, ob sie Geschiedene und Wiederverheiratete wirklich ein Leben lang von der Eucharistie ausschließen wollen. Zum evangelischen Familienpapier hagelt es geharnischte Kommentare in den Medien. Die evangelische Kirche ginge schlampig mit ihrer theologischen Substanz um. Sie verfahre beliebig mit der Bibel, japse dem Zeitgeist hinterher und achte Ehe und Familie gering.

Warum? Weil die evangelische Kirche die Ehe wertschätzt, aber feststellt, dass es Liebe, Verlässlichkeit und Fürsorge auch in anderen familiären Formen gibt. Auf der anderen Seite sagen Verantwortliche für Familien, zum Beispiel  Leute, die in der Familienberatung oder in der Kinder– und Jugendpsychiatrie tätig sind: Endlich! Endlich eine Stellungnahme von der Kirche, in der wir uns wiederfinden. In der die Probleme, mit denen wir täglich konfrontiert sind, nicht verschwiegen werden.

Die Autorinnen und Autoren des evangelischen Familienpapiers nehmen ernst: In der Bibel kommen Ehe und Familie nicht nur als „Vater, Mutter, Kind“ vor. In der Bibel gibt es eine Vielfalt an Formen des Zusammenlebens. Die Bibel hat einen nüchternen Blick auf Familie. Sogar auf die Heilige Familie: Maria, noch unverheiratet, wird schwanger. Josef, ihr Verlobter, ist nicht der Vater. Der trägt sich mit dem Gedanken, Maria zu verlassen. Der Gottessohn Jesus wird in die Widrigkeiten hinein geboren, die es in Familien bis heute gibt.

Was wir heute Patchwork-Familie nennen, gibt es auch im Alten Testament: Abraham hat zwei Söhne: Ismael mit Hagar und Isaak mit Sara. Den beliebten Trauspruch „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen, wo du bleibst, da bleibe ich auch“, spricht in der Bibel eine Frau zu einer Frau: die Moabiterin Rut zu ihrer israelitischen Schwiegermutter Noomi.3 Es gibt Geschwisterzwist wie zwischen Jakob und Esau – und die Erfahrung des Segens, dass selbst nach Jahre langer Feindschaft Versöhnung möglich ist. Große Vielfalt also in der Bibel, was Ehe und Familie betrifft. Nicht jede der biblischen Konstellationen ist glücklich. Nicht jede wird zum Segen für die beteiligten Menschen. Heißt Vielfalt Beliebigkeit? Ist alles gleich gültig und damit auch gleichgültig?

3. Musik

Familie gibt es in großer Vielfalt. Jede Zeit hat ihr Verständnis von Ehe und Familie biblisch zu begründen versucht. In den 50er und 60er Jahren war die gesetzliche Norm die „Hausfrauen-Ehe“: Ohne die Einwilligung ihres Mannes konnte eine Frau kein Konto eröffnen, keinen Führerschein machen und durfte nicht arbeiten. Bei Fragen in der Erziehung der Kinder hatte der Mann das letzte Wort.

Christliche Verfechter begründeten das mit der Bibel: Schließlich hatte Gott Eva aus der Rippe des Adam erschaffen. Darum ist „der Mann das Haupt der Frau“.4 So steht es bei Paulus. Feministinnen kreierten daraus den Witz: „Als Gott den Mann erschuf, übte sie nur.“ Bei Paulus steht aber auch: „Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. (…) Hier ist weder Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt eins in Christus.“5

Im 3. Buch Mose steht: „Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so ist das ein Greuel und beide sollten des Todes sterben.“6 Es gibt bis heute Länder, in denen dieser Vers dazu dient, Homosexuelle zu lynchen. Die dortigen Kirchen schweigen dazu oder verdammen lauthals Schwule und Lesben.

Es steht im selben 3. Buch Mose geschrieben: Das Essen von Lebewesen aus dem Wasser ohne Schuppen und Flossen, also zum Beispiel Muscheln oder Scampi, ist ebenfalls ein Greuel.7 Guten Appetit bei der nächsten Frutti di Mare-Platte im Italienurlaub! Blutwurst gehört übrigens auch zu den Greueltaten –  schlechte Nachricht für die hessische Schlachtplatte!8

Das zeigt: Mit einzelnen Bibelversen kommen wir nicht weiter. Paulus schreibt: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ 9 Wir müssen das gesamte biblische Zeugnis in den Blick nehmen und nach Gottes Geist fragen. Durch Gottes Geist wird die Bibel zum Wort Gottes, nicht durch den einzelnen Buchstaben oder den einzelnen Vers. Darin besteht die Herausforderung: Was sind aus dem Glauben heraus begründete Maßstäbe für ein verantwortungsvolles, segensreiches Zusammenleben?

Maßstäbe für Zusammenleben. In der Bibel sind das Liebe, Treue, Achtung, Verlässlichkeit, Gerechtigkeit, Verantwortung und Sorge füreinander. Die Einsicht, dass wir auch in der Liebe nicht perfekt und darum auf Vergebung angewiesen sind. So wie es im Trauversprechen heißt: „Ich will dich lieben und ehren, dir vertrauen und treu sein, für dich sorgen und einander  vergeben, so wie Gott uns vergibt, nach Gottes Gebot mit dir leben in guten wie in bösen Tagen, bis dass der Tod uns scheidet.“

Ehe und Familie bieten einen schützenden und stärkenden Rahmen. Das Familienpapier der Evangelischen Kirche erkennt an, dass diese Qualitäten neben der Ehe auch in anderen Formen des Zusammenlebens vorkommen. Der Begriff Familie wird weit verstanden: Familie ist, wo Menschen Generationen übergreifend füreinander Verantwortung übernehmen.

Auch Scheitern im Zusammenleben und Scheidung wird ernst genommen. Menschen brauchen gerade an den Bruchstellen Zuspruch, Begleitung und Segen – weil wir trotz bester Absicht Fehler machen und auf Gottes Gnade angewiesen sind.

Das Familienpapier versucht einen doppelten Realismus: einen biblischen und gesellschaftlichen Realismus. Ob das immer gelingt, kann jeder selbst nachlesen und sich eine Meinung bilden. Man kann das Familienpapier im Internet finden oder sich von der Evangelischen Kirche zuschicken lassen.10 Zusammenleben ist schön, macht aber Mühe. Wie können Ehe, Partnerschaft und Familie gelingen? Dazu sagen Bibel und christlicher Glaube einiges.

4. Musik

Wir alle – wie die Menschen in der Bibel - leben in ganz unterschiedlichen Konstellationen: verheiratet, verpartnert, in Beziehung ohne Trauschein, freiwillig oder unfreiwillig Single, geschieden, wieder verheiratet, als Mutter-Vater-Kinder, alleinerziehend oder mit Kindern aus verschiedenen Beziehungen. Als Großeltern mit einer bunt gewürfelten Kinder- und Enkelschar. Mit unerfülltem Kinderwunsch oder bewusst ohne Kinder, verwitwet, der Silbernen, Goldenen oder gar Diamantenen Hochzeit entgegen, auf der Suche nach einem Partner, einer Partnerin oder aus Überzeugung zölibatär. Das ist ein Teil der Bandbreite. Wie gestalten wir das verantwortungsvoll? Verantwortungsvoll vor uns selbst und vor den anderen. Verantwortungsvoll vor Gott.

Was gibt uns die Bibel dafür an die Hand? An erster Stelle: Das höchste Leitbild der Bibel sind nicht Ehe und Familie, sondern mit der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament, gesprochen: Gott liebhaben.11 Und im Neuen Testament ist das Leitbild: Nachfolge. Jesus Christus nachfolgen. Ehe und Familie sind nicht Teil des christlichen Glaubensbekenntnisses. Darum ist die Ehe in der evangelischen Kirche kein Sakrament – im Unterschied zur römisch-katholischen Kirche. Ich werde nicht heiliger, wenn ich heirate. Ich werde auch nicht heiliger, wenn ich nicht heirate, wie es die Tradition des Zölibats als Priester, Nonne oder Mönch nahegelegt hat. Martin Luther hat die Ehe ein „weltlich Ding“ und zugleich ein „göttlich Werk und Gebot“ genannt. Weltlich, weil die Ehe keine Erlösungsinstanz ist. Sie entscheidet nicht über mein Verhältnis zu Gott. Göttlich, weil ich auch in der Ehe auf Gott ausgerichtet und angewiesen bin.

Die Ehe ist eine gute Gabe Gottes. Das kann man spüren, wenn man sich an dem anderen freut: Was für ein Geschenk, dass ich diese Liebe erfahren darf! Es ist ein großes Glück, ein Leben in guten wie in bösen Tagen mit dem anderen zu teilen. Es ist ein Segen, wenn man beglückt auf das erste Ehejahr, das 10., 25. und 50. Ehejahr zurückschauen kann und gemeinsam dem entgegengeht, was die Zukunft bringt – zuversichtlich, weil man weiß: Der andere ist an meiner Seite.

Jesus fragt einmal: „Wer ist meine Mutter und meine Brüder?“ Jesus gibt selbst die Antwort: „ Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“12 Jesus setzt Gottes Willen über Familienbande. Mehr noch: Gottes Wille stiftet Zugehörigkeit über die verwandtschaftliche, biologische hinaus: Wer Gott vertraut, gehört zur Familie Gottes. Gott bietet ewig und jeden Tag Zugehörigkeit zu seiner Familie. Bei Gott bin ich Mensch, bei Gott darf ich’s sein.

Es gibt unter Christenmenschen die Anrede „Liebe Schwestern und Brüder!“ Das klingt ein bisschen altväterlich und betulich. Und doch hat es einen tiefen Sinn: Wir sind Schwestern und Brüder, gemeinsam zu Gottes Kindschaft bestimmt. So unterschiedlich wir leben, so unterschiedlich wir sind, wir haben eine gemeinsame Zugehörigkeit zu Gott. Gott sei Dank ist Familie nicht alles. Gott sei Dank gibt es über die Familie hinaus Freundinnen und Freunde, Vereine, engagierte Gruppen und Kirchengemeinden. Das entlastet von dem Druck, dass Familie alles sein soll.

Bedingungslos dazu gehören dürfen, das ist für mich eine der höchsten familiären Qualitäten. Es kann mal blitzen und krachen. Ich kann mal voll daneben liegen oder mich zeitweise entfernen. Aber ich gehöre immer dazu. Ich werde nicht fallen gelassen. Gott gibt mich nicht verloren. Von dieser Zugehörigkeit zu Gott und Zusammengehörigkeit unter uns kann es gar nicht genug geben. Ich bin überzeugt: Wenn ich mich so getragen weiß, bekomme ich die Kraft, mit den Schwierigkeiten umzugehen, die es in jeder Ehe und Familie gibt. Und bin glücklich über alles, was in Beziehungen gelingt.

5. Musik

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