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Zeitzeugen im Gespräch - Zum 85. Geburtstag von Elie Wiesel
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Zeitzeugen im Gespräch - Zum 85. Geburtstag von Elie Wiesel

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

In dem großen Kirchenraum sitzen über 100 Konfirmanden. Mehrere Gruppen aus unterschiedlichen Stadtteilen Frankfurts sind hierhergekommen. Alle reden durcheinander. Manche kennen sich aus der Schule: „Ach, du bist auch hier!“ Die Jugend-Kultur-Kirche Sankt Peter hat zu einem Podiumsgespräch eingeladen, mit Zeitzeugen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Zuerst werden Fotos aus der Zeit per Beamer an die Wand gestrahlt: das zerbombte Frankfurt, Menschen mit Judenstern, abgemagerte Kinder in Sträflingskleidung.

Dann fängt Edith Erbrich an zu erzählen. Sie ist jetzt über 70 Jahre, spricht sehr lebendig mit hessischem Einschlag. Die gebürtige Frankfurterin war sieben Jahre alt, als sie im Februar 1945 ins KZ Theresienstadt verschleppt wurde. Ihr Vater war Jude. Sie erzählt davon, wie sie abgeholt wurden und in Viehwaggons abtransportiert wurden, sie, ihre Schwester und ihr Vater. Die Mutter wollte freiwillig mitgehen, aber das wurde verboten. Kurz vor der Abfahrt wurde die Tür zum Waggon noch einmal aufgemacht, die beiden Schwestern wurden hochgehoben. Die Mutter hatte darum gebettelt, ihre beiden Kinder noch einmal zu sehen. Das letzte Bild vor der Abfahrt: die weinende Mutter.

Es wird immer stiller in dem großen Kirchenschiff von Sankt Peter, die Jugendlichen hören gebannt zu. Geschichte wird hier plastisch und greifbar. Dann dürfen die Jugendlichen selbst Fragen stellen. Was sie zu essen bekommen habe, fragen sie: eine Scheibe Brot und einen Teller wässrige Suppe. Das musste für den Tag reichen. Ihren Vater durfte sie nur einmal in der Woche sehen. Ja, und so etwas wie Schule hätte es auch gegeben, aber verboten und selbstorganisiert durch ein paar ältere Frauen. Ein Bleistift musste für mehrere Kinder reichen, dasselbe Blatt Papier wurde mehrmals benutzt. Und es gab jemand, der Wache stehen musste, falls ein Wärter kam.

Edith Erbrich kämpft gegen das Vergessen. Ähnlich wie Elie Wiesel, Schriftsteller und Nobelpreisträger und ebenfalls ehemaliger KZ-Häftling. Beide haben aus dem eigenen Leid eine Aufgabe fürs Leben gezogen. Elie Wiesel hat einmal gesagt: „Ich habe mir geschworen, nie leise zu sein, wann immer Menschen leiden. Alles, was uns geschieht, kann der ganzen Menschheit geschehen.“

Ich frage mich: Wo muss ich heute besonders laut meine Stimme erheben? Mit dieser Frage will ich durch den Tag gehen und wachsam sein. Ob mein Herz heute für die Jugendliche schlägt, die gemobbt wird, oder für den älteren Herrn, der mit Hartz IV nicht auskommt, ist gar nicht so wichtig. Ich kann ja nicht das Leid der ganzen Welt in den Blick nehmen. Und handeln kann ich sowieso nur punktuell. Das Leid von Edith Erbrich hat mich jedenfalls berührt, und nicht nur mich. Eine Konfirmandin sagt mir nach der Podiumsdiskussion: „Die Frau war gut. Ich habe begriffen: Das Leid der anderen geht mich immer etwas an, egal wo es passiert und wie lange es her ist.“

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