Stolz auf Gott
„Ich bin stolz auf Gott“ – das war der Spitzensatz bei der Konfirmationsfeier in meiner Kirche vor ein paar Wochen. „Ich bin stolz auf Gott“ – derjenige, der das gesagt hat, war Dominique, einer von den vier Jugendlichen, die in dem Gottesdienst eingesegnet wurden. Die Feier in der Kirche ging dem Ende entgegen - gerade wurde noch ein Lied gesungen - da streckte Dominique, der in meiner Nähe saß, den Kopf zu mir aus und fragte: „Herr Temme, darf ich noch was sagen?“ Und ich darauf: „Na klar, wenn Du noch was sagen willst, dann geh gleich noch mal ans Mikro und sag’s“. Und so war’s dann auch. Das Lied war fertig, Dominique ging zum Mikrophon und sagte etwa folgendes: „Also, wir haben doch eben gebetet, und wir haben zu Gott gesagt: Er soll schönes Wetter machen auf unserer Konfirmation. Und guckt mal: Er hat schönes Wetter gemacht! Ich bin stolz auf Gott“.
Das war’s, was Dominique noch loswerden musste. Und mit strahlendem Gesicht setzte er sich wieder zu den anderen.
MUSIK
„Ich bin stolz auf Gott“ – hatte man jemals vorher schon einmal so einen Satz gehört? Eltern sind manchmal stolz auf ihre Kinder. Lehrer sind mitunter stolz auf ihre Schüler, und der Trainer kann stolz sein auf seine Mannschaft – aber stolz sein auf Gott? Da gehört schon etwas dazu, so einen Gedanken zu denken, oder etwa nicht? Denn ist es nicht so, dass es meistens sozusagen ein Großer ist, der stolz ist auf einen Kleineren? Oft jedenfalls ist das so. Aber hier nun wird das ganze Verhältnis, wie es scheint, umgedreht: Dominique, der Jugendliche, ist stolz auf den ganz Großen, stolz auf Gott, stolz auf seinen Schöpfer.
Ich selber fand’s einfach nur toll. Und viele in der Gemeinde waren bewegt von diesem schlichten Satz „Ich bin stolz auf Gott“. Offenbar hatte dieser Dominique zu diesem Gott ein so vertrautes Verhältnis, dass in dieser Beziehung alles möglich war.
Gott konnte stolz sein auf Dominique, und Dominique konnte stolz sein auf Gott. Hier war keiner kleiner oder größer als der andere. Gott und Dominique das war eine Beziehung auf Augenhöhe.
MUSIK
Etwa anderthalb Jahre vor der Konfirmation war ich zum ersten Mal in der August- Fricke-Schule erschienen. Das ist eine Schule für praktisch bildbare Schülerinnen und Schüler in Kassel. Für mich war das Neuland. Ich hatte Ja gesagt zu der Anfrage, ob ich einer kleinen Gruppe von Jugendlichen, zwei Jungs und einem Mädchen, Konfirmandenunterricht in der Schule geben könnte. Und ich war gespannt und schon auch ein bisschen nervös, wie das denn wohl werden würde.
Zur Gruppe gehörten neben Dominique noch Denis, ein zupackender Junge mit verschmitztem Humor, und Jenny, ein Mädchen, das nie zimperlich war, Sympathie und Antipathie direkt und ohne Umschweife auszuteilen. Man konnte sich nie ganz sicher sein, ob man beim Wiedersehen eher gemocht oder eher verwünscht wurde. Aber, nebenbei bemerkt: Ist es bei uns anderen nicht ganz ähnlich? Nur dass wir unsere Gefühle besser verbergen und kaschieren können? Auf jeden Fall war ich nach der ersten Stunde ganz erleichtert. Ich konnte mir gut vorstellen, mich mit diesen Dreien auf einen gemeinsamen Weg bis zur Konfirmation zu machen.
Da es kurz vor der Adventszeit war, als wir mit dem Unterricht begannen, fingen wir mit der Geschichte von der Geburt Jesu an. Ich verteilte Bilder zum Ausmalen: Bilder von der schwangeren Maria und vom Kind in der Krippe. Aber kaum, dass das Thema „Geburt“ und „Auf die Welt kommen“ auf dem Tisch war, sprudelte es auch schon aus meinen Konfirmanden heraus: Alle drei wussten viel von ihrer eigenen Geburt zu erzählen, und wie das damals, vor dreizehn, vierzehn Jahren, war. Nämlich nicht einfach. Ja, dass das Leben da ganz schön auf der Kippe stand. „Aber“ – sagte einer von den Dreien – „Aber der Gott hat mir geholfen.“
„Der Gott hat mir geholfen“ – wieder so ein Satz, der sich mir eingeprägt hat. Und meine Verwunderung über diesen Satz hängt wesentlich mit einem kleinen, unscheinbaren Wörtchen zusammen, nämlich: Der Gott war’s, der Gott hatte geholfen. Sätze wie „Gott hat mir geholfen“, „Gott ist mir beigestanden“ – solche Sätze hatte ich als Pfarrer natürlich schon öfter gehört; und solche Sätze habe ich auch schon selber gedacht und empfunden. Aber „Der Gott hat mir geholfen“ – in dieser Aussage war nochmal was Neues, was Anderes. Für meine Ohren ist „der Gott“ irgendwie geheimnisvoller und fremder als nur „Gott“.
„Gott hat mir geholfen“ – das sind gewissermaßen bekannte Verhältnisse. Aber: „Der Gott hat mir geholfen“ – das heißt für mich: da hat etwas Großes, etwas Unverfügbares in mein Leben eingegriffen. Der Gott hat sich als mächtig erwiesen. Er hat schon bei der Geburt das Leben von Jenny, Denis und Dominique gerettet.
MUSIK
Der Sänger, den Sie hier nun schon zum zweiten Mal gehört haben, war Dominique, einer von meinen drei Konfirmanden aus der Kasseler August-Fricke-Schule. Auf dieser Schule lernte ich viel Neues. Und ich lernte es von den drei Schülern. Neues nicht nur über Gott: wer Gott ist und wie er sich zu uns verhält. Sondern Neues auch über Konfirmanden und welche Interessen sie haben im Konfirmandenunterricht.
Neu war für mich zum Beispiel, dass es da einen Konfirmanden gab, der unbedingt ein Lied dichten und komponieren wollte. Das hatte ich bis dahin noch nicht erlebt. Aber für Dominique gab es nichts Wichtigeres als die Musik. Und da sich auch Jenny und Denis darauf einlassen konnten, dass nicht nur Geschichten von Jesus, sondern auch Singen und Komponieren auf der Tagesordnung unseres Konfirmandenunterrichts stehen sollten, ging es los mit unserer Komponierwerkstatt.
Natürlich musste das Lied auf Englisch sein. Das war keine Frage. Aber wovon sollte der Song handeln? Es dauerte nicht lang, bis klar war: mit den Worten „Thank you“ (Danke) könnte man viel anfangen. „Thank you“ könnte ein roter Faden sein, der sich durch das Lied zieht. Eventuell noch mit der Ergänzung „Thank you God“ – wobei: die Hauptsache war hier schon „Thank you“ – und ob „God“ mit dabei war oder nicht, war hier einfach nicht so wichtig. Und so wurde dann die erste Strophe gedichtet:
Thank you God for the Music. / Thank you God for the Love.
Bevor wir weiter gedichtet haben, musste erst einmal eine Melodie erfunden werden. Aber das alles ging erstaunlich flott vonstatten. Und ich kam kaum nach mit dem Aufschreiben. Unser Dichter-Komponist Dominique war ganz in seinem Element. Ich glaube, wenn es nach ihm allein gegangen wäre, hätten wir nie wieder was anderes gemacht als zu komponieren.
In unserer Konfirmandenstunde haben wir aber auch Lieder gesungen, die schon fertig waren. Englische Gospels waren dabei, aber auch deutsche Kirchenlieder. Jenny zum Beispiel mochte ganz besonders „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen“, und es hagelte Protest, wenn wir nicht alle elf Strophen davon sangen. Wobei: bei diesem Lied war es meistens so, dass ich sang und die drei beschäftigten sich still mit einer anderen Sache. Aber das Erstaunliche war: es war wirklich still dabei. Und das bei einer Gruppe, in der jede und jeder für sich ein Ausbund an Lebhaftigkeit gewesen ist.
MUSIK
Für den Konfirmationsgottesdienst hatten Denis und Dominique in der Stunde vorher ein Gebet zusammengestellt. In der Kirche haben Sie es dann selbständig vorgetragen:
DENIS: Gott, bitte hilf immer den armen Menschen und uns auch!
DOMINIQUE: Gott, mache, dass schönes Wetter ist bei der Konfirmation.
DENIS: Gott, mache, dass die Welt so bleibt wie immer:
sauber und dass nichts passiert.DOMINIQUE: Gott, mache, dass dieser Tag nicht so schnell rum geht und die Stunden
lange dauern.
DENIS: Gott mache, dass es unserer Familie gut geht.
DOMINIQUE: Gott mache, dass unser Leben lange dauert.
DENIS: Gott mache, dass wir nicht krank werden oder Krebs bekommen.
DOMINIQUE: Gott mache, dass unsere Wünsche für unseren Beruf in Erfüllung gehen.
DENIS: Gott mache, dass es heute schönes Essen gibt.
DOMINIQUE: Gott mache, dass es keine Neonazis gibt und dass Gott sie bestraft für das, was sie tun. Amen.
[Gebet der Konfirmanden]
Solche Gebetsbitten hatte meine Gemeinde vorher auch noch nicht gehört – und ich auch nicht. Etwa: Dass die Stunden lange dauern sollen; oder: Dass das Festessen gut schmecken soll; oder: Dass Gott strafen soll: nämlich die Neonazis. Aber am besten wäre, es gäbe sie gar nicht, die Nazis.
Ich muss sagen: Bis zuletzt hörte das Lernen mit dieser Konfirmandengruppe nicht auf. Ich meine mein eigenes Lernen. Denn dass Gott strafen soll: ich kann mich nicht erinnern, dass ich selber jemals im Gottesdienst so geredet hätte. Aus dem Mund aber dieser Konfirmanden leuchtete mir die Bitte unmittelbar ein: Gott soll die Neonazis bestrafen! Ja, das soll er auch! Ihr böses Tun darf nicht ohne Konsequenzen bleiben! Die Neonazis müssen spüren, dass man sich nicht so verhalten darf, wie sie es tun! Gott soll sie bestrafen.
MUSIK
Durch meine Konfirmanden habe ich aber nicht nur gelernt, dass es sinnvoll sein kann, Gott um Bestrafung zu bitten. Ich habe auch gelernt, dass die heutigen Nazis mit ihren menschenverachtenden Parolen eine Bedrohung sind für sehr viele Menschen. Die Morde, die von Neonazis in unserem Land verübt wurden – auch in meiner Stadt Kassel – sind nur die Spitze des Eisbergs. Aber der Eisberg ist größer als die Spitze. Von dem Treiben der Neonazis geht eine Bedrohung aus für alle Menschen, die anders sind. Nicht nur für Ausländer oder Schwule, sondern auch für die vielen Menschen, die einfach ein wenig anders ticken, für alle, die nicht ins gängige Schema passen. Wie gefährlich und wie bedrohlich das braune Treiben schon heute ist: so richtig habe ich das erst durch meine Konfirmanden gelernt. Und Recht haben sie auch, wenn sie sagen: Gott soll sich doch mal, bitteschön, um die Sache kümmern und alles wieder in Ordnung bringen.
Nachdem Gott schon beim guten Konfirmationswetter gezeigt hatte, dass er unsere Wünsche erfüllen kann, wenn er will: soll er’s doch bitte jetzt noch mal zeigen und dem Treiben der Neonazis ein Ende bereiten. Dann könnten wir mit Dominique einmal mehr sagen: Ich bin stolz auf Gott.
MUSIK
Die Konfirmation von Jenny, Dominique, Denis und dessen Bruder Kevin war für unsere Gemeinde ein absolutes Highlight in diesem Jahr. Alle waren stolz auf diese nun konfirmierten jungen Leute. Auf ihre Lebendigkeit, auf ihre Kreativität, auf ihren Mut und auf ihr Vertrauen ins Leben und auf Gott.