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Ein Opfer für das Heil aller
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Ein Opfer für das Heil aller

Anke Haendler-Kläsener
Ein Beitrag von Anke Haendler-Kläsener, Evangelische Krankenhauspfarrerin, Flieden

Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld / der Welt und ihrer Kinder;
es geht und büßet in Geduld / die Sünden aller Sünder;
es geht dahin, wird matt und krank, ergibt sich auf die Würgebank,
entsaget allen Freuden;
es nimmet an Schmach, Hohn und Spott,
Angst, Wunden, Striemen, Kreuz und Tod
und spricht: „Ich will´s gern leiden.“

(Paul Gerhardt: Evangelisches Gesangbuch Nr.83,1)

Wenn Sie heute irgendwo landauf landab einen evangelischen Gottesdienst zum Karfreitag besuchen, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Sie dort unter Orgelklängen dieses Lied von Paul Gerhardt singen. Seine Lieder sind, obwohl fast 400 Jahre alt, nach wie vor die Wichtigsten unter den Passionsliedern. An ihnen geht fast kein Weg vorbei an einem hohen christlichen Feiertag wie dem heutigen.

Viele Gottesdienstbesucher mögen seine Lieder sehr. Sie bringen etwas von dem zum Ausdruck, was traditionell als Kernbotschaft von Karfreitag verstanden wird. Die Schwere des Kreuzestodes wird hier zusammen gedacht mit der Schwere des Dreißigjähriges Krieges, der Schwere von Paul Gerhardts Biographie und auch mit der Schwere im eigenen Leben. Das hilft manches leichter tragen.

Andere aber stoßen sich daran: matt und krank - Schmach - Hohn - Spott - Angst - Wunden – Striemen; und - gewissermaßen als bildliche Zusammenfassung all dieser Begriffe: die Würgebank. Das ist schon hart. Damit kann in der Tat nicht jeder umgehen. Viele Christen finden den Zugang zu diesen Texten nicht mehr. Sie möchten den Schwerpunkt ihres Glaubens nicht mit einer solchen Wucht auf Leiden, Tod, Opfergedanken richten. Wenn sich unser Blick ohne Unterlass auf den geschundenen Körper am Kreuz richtet, wie können wir dann zu einem frohen, leichten, mutmachenden Glauben finden?

MUSIK

Opfer – ein Wort mit langer Geschichte unterschiedlichster Bedeutungen. Ein Wort, das nicht losgelöst von seiner langen Geschichte über die Lippen geht. Ein Wort mit verschiedensten Schattierungen, ob wir das wollen und uns dessen bewusst sind oder nicht. Und ich frage mich, ob wir am Karfreitag einen neuen Zugang zu diesem alten Wort finden können.

Dabei ist das Wort an sich ja gar nicht aus unserem normalen Sprachgebrauch herausgefallen. Bis heute wird weiterhin munter geopfert.

Ein Politiker hat sich unmöglich gemacht. Er soll Verantwortung übernehmen, stattdessen aber bereichert er sich selbst, füllt die eigenen Taschen und hat seinen eigenen Vorteil im Blick. Als man ihm auf die Schliche kommt, versucht er zu vertuschen, sich herauszureden, windet sich. Nicht nur zu Beginn diesen Jahres ist das passiert, es passiert immer mal wieder. Zu verlockend ist die Möglichkeit, seine eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Aber als sich die ganze Geschichte nicht mehr unter den Teppich kehren lässt, da muss er reagieren und bringt – so nennen wir es – ein Bauernopfer. Der Pressesprecher wird entlassen, eine enge Mitarbeiterin muss gehen. Nur er selbst hofft inständig, ungeschoren davon zu kommen, die letzte Konsequenz nicht ziehen zu müssen. Das Bauernopfer ist ein Bild, das aus dem Schachspiel stammt. Um den König und seine Dame zu schützen, muss schon mal einer der unwichtigen Bauern geopfert werden, die in erster Reihe stehen. Sie stellen sich vor Dame und König und halten ihnen den Rücken frei. Denn wenn sie geschlagen werden, ist das zu verschmerzen. Gelingt es nicht, so heißt es bald „Schachmatt!“ und das Spiel ist verloren.

Opfer gibt es immer dann, wenn eine stärkere Macht im Spiel ist, die uns in Angst und Schrecken versetzt und gegen die wir uns nicht zur Wehr setzen können. Wo ein Geisterfahrer auf der Autobahn unterwegs ist und andere gefährdet, ja sie sogar durch einen Zusammenprall um Leib und Leben bringt, da sprechen wir von Verkehrsopfern.

Vor einigen Jahren tobte in Thailand ein Tsunami und begrub Tausende von Menschen unter seinen verheerenden Wasserfluten. Im letzten Frühjahr verstrahlte das Kernkraftwerk Fukushima einen Teil Japans und tötete viele Menschen. Danach war die Rede von Katastrophenopfern.

Und in der öffentlichen Diskussion, die sich leider Gottes vor allem im kirchlichen Umfeld entzündet hat, beklagen wir Missbrauchsopfer.

Jemand fällt einem oder einer anderen zum Opfer. Er kann sich nicht wehren, ist schwach und verletzlich. Er nimmt Schaden an seinem Körper und an seiner Seele. Diese Verletzlichkeit ist es, die das Opfer charakterisiert.

MUSIK

Doch auch viel harmloser kann die Rede vom Opfer daherkommen. Mütter opfern sich gern für ihre Kinder. Sie sind übermüdet, weil sie nachts viele Male aus dem Schlaf gerissen werden und die lieben Kleinen durch die Wohnung tragen. Sie verlieren eigene Interessen aus dem Blick und wissen gar nicht mehr, dass sie vor der Mutterschaft gern Tennis gespielt haben, erfolgreich im Beruf oder auch leidenschaftliche Liebhaberinnen waren. All das kann ins Hintertreffen geraten, und ihre Opferrolle tut oft weder ihnen selbst noch den Kindern gut.

„Ach, dann opfere ich mich mal...!“ ist die Antwort, wenn ich im Familienkreis nach Unterstützung beim Spülen oder anderen unliebsamen Tätigkeiten frage. Jemand ist bereit, seine momentane Unlust zu überwinden und sich zum Wohle eines größeren Ganzen einzubringen. Der Sohn greift zum Besen und kehrt Hof und Straße, obwohl es schöner wäre, die Bundesliga im Radio zu verfolgen. Die Tochter nimmt sich den Staubsauger und reinigt das Wohnzimmer, obwohl Berge an Hausaufgaben zu erledigen wären oder eine Freundin wartet.

Ich stelle meine eigenen Interessen zurück und tue etwas für andere. Ich beharre nicht auf meinem Recht, sondern verzichte. Auch das ist ein wichtiger Charakterzug des Opferns.

Allerdings verwandelt sich der Begriff gerade deshalb auch in ein Schimpfwort. „Die ist vielleicht ein Opfer!“ oder ganz direkt: „Du Opfer!“ Jemand wird entlarvt in ihrer Rolle als Außenseiter. Sie gehört nicht dazu, sie ist anders oder benimmt sich zumindest so. Mit ihr oder ihm befreundet zu sein wäre ein Imageschaden – deshalb: „Knecht! Loser! Opfer!“ Du stehst unter mir, ich trete verbal auf Dir herum. Zieh mich bloß nicht mit hinein in den Strudel, der mich gnadenlos nach unten zieht und ausgrenzt. Ich möchte nicht auf die Seite der Opfer gehören, sondern zu den Gewinnern.

MUSIK

Was sich da gehalten hat bis in unseren Sprachgebrauch hinein, hat eine lange Geschichte. Im hebräischen Teil unserer Bibel wird von vielen verschiedenen Opferarten berichtet, die den Israeliten aufgegeben sind: Da gibt es Brandopfer, Speiseopfer, Heilsopfer, Sündopfer, Schuldopfer. Manche von ihnen sind durch das ganze Volk zu erbringen, manche vom König, manche sind dem Tempelkult und den Priestern vorbehalten. Tatsächlich klingt es beim ersten Lesen fremd und archaisch: Da wird Blut an die Hörner des Altars gestrichen oder vorm Heiligtum auf dem Fußboden und sogar auf die Bundeslade ausgegossen. Das sind Riten, die wir uns heute nicht vorstellen können, aus denen wir herausgewachsen sind. Und natürlich nicht nur wir, sondern genauso das Volk Israel. Auch im Judentum werden seit der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 nach Christus keine Opfer mehr dargebracht.

Trotzdem waren die Opfer mehr als ein blutrünstiges Schlachten. Sie waren eine Möglichkeit, die Gott den Menschen eröffnet hat, um mit ihm selbst in Kontakt zu treten. Wer sich - durch was auch immer - verunreinigt hatte, wer Schuld auf sich geladen hatte und wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden wollte, dem war die Tür zu Gott und zu seinen Mitmenschen nicht verschlossen. Er konnte sie durch verschiedenste Opfergaben öffnen. Gott war und ist ein erreichbarer Gott.

Es gab ein sozial abgestuftes Opfersystem: Nicht jede Volksgruppe musste dasselbe opfern, sondern hier spielte der Geldbeutel die entscheidende Rolle. Wer wohlhabend war, opferte einen Stier, die Mittelschicht Ziege oder Bock, und wer arm war, höchstens eine Taube oder Turteltaube. Die Beziehung zu Gott sollte sich nicht am sozialen Status messen, er sollte allen gleichermaßen zugänglich sein.

An Jom Kippur, am großen Versöhnungstag einmal im Jahr wurde die Sünde des ganzen Volkes vom Hohenpriester auf einen makellosen Bock gelegt, dieser wurde in die Wüste gejagt. Wer diesen rituellen Akt mit seiner persönlichen Reue verband, war die Sünde vergeben. Sie war weit weg - in der Wüste. Bis zum heutigen Tag ist das der größte Feiertag der Juden, wenn heute natürlich auch ohne Bock. Das Bild des Sündenbocks hat sich im Christentum gehalten. Deshalb kann Paul Gerhardt vom Lämmlein sprechen, das die Schuld trägt und von der Würgebank, auf die es gelegt wird. Er vergleicht Christus, der am Kreuz stirbt, mit den Böcken, die vorschriftsmäßig nach dem Gesetz geopfert werden und mit dem Bock, auf dem die Sünde des ganzen Volkes liegt.

MUSIK

Es gibt zwei Charakteristika, die bis heute gelten, wenn im alltäglichen Sprachgebrauch von Opfer die Rede ist: Das Opfer beharrt nicht auf seinem Recht, sondern verzichtet darauf. Und: Das Opfer ist verletzlich.

Die Passionsgeschichte in der Bibel bringt diese beiden Züge besser als jede andere zum Ausdruck. Als Jesus im Garten Gethsemane verhaftet wird, greift einer seiner Jünger zum Schwert und will ihn verteidigen. Er ist nicht bereit, zum Opfer zu werden, er will siegen und heil aus dem Garten herauskommen. Doch Jesus herrscht ihn an: „Steck dein Schwert weg! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durch das Schwert umkommen.“ Nicht sein eigener Wille ist ihm wichtig, nicht sein eigenes Recht, sondern der Weg, den Gott für ihn vorgesehen hat.

Als Jesus dann vor Gericht gestellt wird, nimmt er sich keinen Anwalt, der ihm in dieser Lage hilft, sondern verzichtet auf sein Recht. Natürlich hätte er vor Pontius Pilatus und den Hohenpriestern argumentieren können, hätte sein Leben ins Feld führen - aber zugunsten eines Größeren verzichtet er darauf. Im Verzicht nimmt er das Kreuz in Kauf, weil er weiß, dass so unser Weg zu Gott freigemacht wird.

Der Weg nach Golgatha ist der Weg der Verletzlichkeit. Jesus wird zur Schau gestellt und ausgelacht, er wird mit Dornenruten geschlagen und bricht unter der Schwere des Kreuzes zusammen. Er wird neben zwei Mördern hingerichtet und kämpft einen langen Todeskampf. Da ist keine Kraft mehr, keine Stärke, da ist er ganz am Boden. „Du Loser, Du Opfer!“ wäre da wirklich die passende Bezeichnung. Jesus wird zum Opfer; und er opfert sich selbst, um uns den Weg zu Gott frei zu machen. Aber in einem entscheidenden Punkt geht sein Opfer über die anderen Opferrituale hinaus: Sein Kreuzestod setzt den Opfern, die wir darbringen müssten, ein Ende. Seines ist einmalig und letztgültig.

Im Hebräerbrief heißt es:

Christus ist ein- für allemal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben. (...) Er ist einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die aus ihn warten, zum Heil.

(Hebräer 9, 27 und 28)

Schluss mit Opfern! Das erhofft sich Jesus am Kreuz. Wenn wir seinen geschundenen Leib vor uns sehen, soll der uns gerade sagen: Weil Jesus sich verletzlich gemacht und gelitten hat, brauchen wir nicht länger in der Opferrolle zu erstarren. Er will uns lebendig machen und stärken, er will uns einen frohen, mutigen Glauben schenken. Wir dürfen den Kopf heben und zuversichtlich auf das Kreuz blicken. Und das nicht erst übermorgen am Ostertag, sondern schon heute an Karfreitag. Weil Jesus sich für uns zum Opfer gemacht hat, deshalb dürfen wir uns auf die Seite der Sieger sehen.

Davon hat auch Paul Gerhardt etwas gespürt. Deshalb bleibt sein Lied nicht bei der Würgebank stehen, sondern geht weit darüber hinaus:

Ich will von deiner Lieblichkeit / bei Nacht und Tage singen, mich selbst auch dir nach Möglichkeit / zum Freudenopfer bringen. Mein Bach des Lebens soll sich dir / und deinem Namen für und für in Dankbarkeit ergießen; und was du mir zugut getan, das will ich stets, so tief ich kann, in mein Gedächtnis schließen.

(Evangelisches Gesangbuch Lied 83,5)

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