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Worte haben Macht – Zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Liao Yiwu
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Worte haben Macht – Zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Liao Yiwu

Doris Joachim
Ein Beitrag von Doris Joachim, Evangelische Pfarrerin, Referentin für Gottesdienst im Zentrum Verkündigung, Frankfurt

Es waren Worte, die ihn vor zweiundzwanzig Jahren ins Gefängnis brachten. Liao Yiwu. Der chinesische Dichter. Heute Morgen wird ihm der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. In Frankfurt, in der Paulskirche. Liao Yiwu – er hatte nichts anderes als Worte, um eine Großmacht zu bekämpfen. Damals 1989, am 4. Juni. Als die chinesische Armee auf die Studenten losging. Die hatten wochenlang auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking für Demokratie und Menschenrechte demonstriert. 2600 junge Leute starben. Vielleicht auch mehr. Einfach abgeknallt oder mit Panzern überrollt.

Da schrieb Liao Yiwu dieses Gedicht: Massaker. Eigentlich schrieb er es nicht nur. Er brüllte es auf ein Tonband, weinte, winselte, schrie heraus, was an Zorn und Verzweiflung in ihm war. Und er gab dem, was da geschah, ein Wort: Massaker. Deswegen musste er ins Gefängnis. Vier Jahre lang. Das Tonband mit dem Gedicht aber machte die Runde. Wurde kopiert und immer wieder kopiert. Worte haben Macht. Menschen hörten sie und wurden gestärkt. Die chinesische Staatssicherheit hörte sie auch und reagierte mit Gewalt. Dieser Staat fürchtet Worte, die ihn in Frage stellen, bis heute.

Ich habe bis vor kurzem nicht viel von Liao Yiwu gewusst. Ein Dichter, ein Literat. Einer der vielen, die in China verfolgt werden. Was können Einzelne tun gegen die größte Diktatur der Welt? Was können Worte schon ausrichten? Das denke ich oft, wenn ich lese oder im Fernsehen sehe, wie Menschen sich verzweifelt wehren gegen Unrecht und Unterdrückung. Worte nur. Aber Liao Yiwu hat gezeigt: Worte haben Macht. Manchmal ist es die leise Macht von unten. Hartnäckig wiederholt. Da ist eine Kraft in den Worten eines Menschen, der wirklich etwas zu sagen hat.

Ich habe dieses Gedicht „Massaker“ mehrmals gelesen. Es ist kein schönes Gedicht. Furchtbare Worte. Sie schildern Gewalt. Drastisch, bitter, hart, voller Wut. Zwischendurch immer wieder die Aufforderung: „Weine doch. Weine doch. Noch hast du die letzte Kraft, nutze sie. Weine doch. Weine doch.“ Für die Tonbandaufnahme wählte Liao Yiwu als Hintergrundmusik ein Lied. „Lasst Liebe die Welt erfüllen.“ Gesungen von einem Kinderchor. Zarte Kinderstimmen. Was für ein Gegensatz!

Da ist nicht ein einziges Trostwort in dem Gedicht. Und doch tröstet es. Wie kommt das? Vielleicht weil es dem Grauen Worte gibt. Weil es Gefühle beim Namen nennt. Schlimmer als die furchtbaren Worte wäre das Schweigen. Schlimmer wäre es, wenn einem das Schreien und Weinen im Hals stecken bliebe. Raus mit den Worten! In die Welt geschrien. Den Mächtigen entgegen.

So haben sich Menschen schon immer Luft gemacht. Auch in der Bibel. In den Psalmen. Da brüllen, winseln oder weinen die Beter wie Liao Yiwu auf seinem Tonband. Viele Psalmen sind keine schönen Gebete. Sie schildern Gewalt. Drastisch, bitter, hart, voller Wut. Wie soll man auch schöne Worte finden, wenn man im Elend steckt? Und doch ist Trost in diesen harten Worten. Sie verändern den Beter. Und wie von Kinderstimmen mischen sich in die wütenden Worte plötzlich zarte Sätze. „Wirf dein Anliegen auf Gott. Der wird dich versorgen.“  (Psalm 55,23)Die Macht der Worte – sie zeigt sich, wenn Menschen aufstehen und der Gewalt widerstehen. Und wenn sie dabei das Weinen und die Liebe nicht vergessen.

Vier Jahre lang saß der chinesische Dichter Liao Yiwu im Gefängnis. Es war die Hölle. Folter und Gewalt. Eingepfercht zusammen mit Kriminellen und politischen Häftlingen. Danach konnte er keine Gedichte mehr schreiben. Es ging einfach nicht mehr. Aber er fand andere Worte. Er schrieb auf, was andere ihm erzählten. Die Menschen im Gefängnis und später dann Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft. Mit ihnen lebte er nach seiner Haft. Denn wie viele Widerstandskämpfer war er völlig verarmt.  Die meisten seiner Freunde hatten sich von ihm abgewandt. Aus Angst. Seine Frau hatte ihn mit dem gemeinsamen Kind verlassen. Er musste sich seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsarbeit und als Straßenmusikant verdienen.

„Ich bin das Tonbandgerät meiner Generation“, sagt er von sich selbst. Er sammelte Geschichten von Prostituierten, Klomännern und Straßensängern. Und machte ein Buch daraus. Wieder war es ein Wort, für das er mehrmals verhaftet wurde: Es ist das chinesische Wort diceng und bedeutet Bodensatz, Unterschicht. Das Wort ist ein Schlag ins Gesicht eines Landes, das von sich behauptet, eine Gesellschaft von Gleichen zu sein. Über die Schattenseiten Chinas soll nicht gesprochen werden. Der Staat fürchtet solche Worte. Liao Yiwu aber spricht darüber. Sein Buch wurde verboten, der Verleger bestraft.

Seit letztem Jahr lebt er in Deutschland. Ein an Leib und Seele verletzter Mann. Das merkt man seinen Texten an. Vor allem in seinem autobiographischen Buch, in dem er über die Zeit im Gefängnis schreibt. Eine Sprache, die meine Schmerzgrenze oft überschreitet. Drastisch, direkt, bitter, sich selbst gegenüber schonungslos, oft sarkastisch. Aber zwischendurch voller Poesie und Zartheit. Wenn er zum Beispiel erzählt, wie er für seine Mitgefangenen vor ihrer Hinrichtung Abschiedsbriefe an ihre Familien schreibt.

Worte haben Macht. Sie machen eine Großmacht nervös. Aber bewirken sie auch etwas? Ich meine: zum Guten hin? Was hat es genutzt, dass Liao Yiwu nicht geschwiegen hat? Es hat ihm doch im Wesentlichen nur Leiden gebracht. Was bringt es, mit Worten zu widerstehen? Muss da nicht mehr geschehen? Gewalt zum Beispiel, bewaffneter Widerstand wie in Syrien? Liao Yiwu hat sich für Gewaltlosigkeit entschieden, wie andere Männer und Frauen des Wortes. Er vertraut der subversiven Macht des Wortes. Er setzt darauf, dass auf lange Sicht die Worte wirken. Weil sie die Wahrheit sagen. Weil sie von der Liebe sprechen und von der Achtung vor allen Menschen. Liao Yiwu ist kein Christ. Aber ich sehe ihn in einer Reihe mit Martin Luther King und Nelson Mandela. Er selbst wäre darüber sicher überrascht. Als er erfuhr, dass er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommt, musste er erst mal nachgucken, was das für ein Preis ist. Er hat die Preisträger der früheren Jahre gesehen. Alle berühmte Intellektuelle. Er schreibt: „Ich dachte: Vielleicht hat sich der Börsenverein bei mir geirrt.“ Er hat sich nicht geirrt. Zu Recht, wie ich meine.

Worte haben Macht. Sie können stärken, aber auch schwächen. Ich habe das oft erlebt. In meinem privaten Umfeld oder auch als Pfarrerin in der Gemeinde. Wie Worte Menschen mutlos oder wütend machen. Oder eben auch: Wie Worte Herzen aufgehen lassen und Augen zum Leuchten bringen. Stärkende Worte können wir gar nicht oft genug sagen. Probieren Sie das aus. Sie werden merken, wie es heller um Sie herum wird.

Aber was im persönlichen Umfeld möglich ist – gilt das auch für eine Gesellschaft? Für einen Staat? Ich bin da oft unsicher. Was können Worte in einer Gesellschaft ausrichten? Was sie anrichten können, das haben wir schon öfter erlebt. Wenn zum Beispiel Menschen ihre rassistischen Parolen brüllen oder auch in scheinbar wohlgesetzten Worten in Bücher schreiben. Ich bin auch immer wieder überrascht, was für eine Gerüchteküche die Börse ist. Ein paar spekulative Worte ins Blaue gesagt – und Aktien fallen. Da werden manchmal Leben ruiniert.

Zu den bloßen Worten gehört auch eine innere Haltung, die ausstrahlt und zu Taten führt. Feindseligkeit und Gier. Oder eben: Liebe und Großzügigkeit. Wenn die schwächenden Worte eine Gesellschaft verändern, dann müssten das die stärkenden auch können. Liao Yiwu macht das vor. Auch wenn die Veränderungen nur in kleinen Schritten vorangehen. Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ist ein solcher Schritt.

Mir geht schon die ganze Zeit ein Wort aus der Bibel im Kopf herum. Es ist ein Satz von Paulus. Der hatte Gott mehrmals gebeten, ihn gesund und stärker zu machen, damit er besser und machtvoller gegen seine Gegner vorgehen kann. Gott hat ihm gesagt: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in dem Schwachen mächtig.“ (2. Korinther 12,9) Die Kraft in den Schwachen. Die Macht, die vom Bodensatz einer Gesellschaft ausgeht. Dafür müssen wir keine großen Dichter sein. Das können wir auch. Als Christen den Mund aufmachen und Worte finden, die stärken. Sie wirken.

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