Ihr Suchbegriff
Einander ohne Verdacht begegnen
Bildquelle Pixabay

Einander ohne Verdacht begegnen

Till Martin Wisseler
Ein Beitrag von Till Martin Wisseler, Evangelischer Pfarrer, Langenselbold

Johannes Calvin (1509 – 1564), einer der Reformatoren, hat einmal gesagt: Lieber anderen aufrichtig, freundlich und vertrauensvoll begegnen, als sie zu verdächtigen, nur weil man sich selbst eine Enttäuschung ersparen will. (Nach: Schriften IV) Wie wichtig das ist, anderen aufrichtig, freundlich und vertrauensvoll zu begegnen, habe ich noch einmal neu verstanden, als ich in einer großen Metropole Südafrikas unterwegs war:
Die Mittagssonne hatte ihren höchsten Punkt erreicht. Die Luft war schwül-warm, zwischen den Häuserschluchten konnte sie kaum entweichen. Ich fuhr mit dem Auto durch die Stadt und war froh, eine Klimaanlage zu haben. Der Verkehr hielt sich in Grenzen. Das normale „stop and go“ des Stadtverkehrs. Immer wieder Warten an den roten Ampeln. Bei der nächsten Grünphase bin ich bestimmt dabei, dachte ich, und schaute konzentriert auf die Ampel. Dann tat sich vorne etwas. Von Auto zu Auto ging eine junge Frau, die ihre offene Hand den Fahrern entgegengestreckte, auf dem Rücken im Tragetuch ihr Baby. Viele Scheiben blieben oben. Euro um Euro müssten her, damit diese Frau mit ihrem Kind nicht mehr zu betteln bräuchte, denke ich. Dann aber auch: Tut sie vielleicht nur so als ob? Ist das nur ein Trick, bequem das schnelle Geld zu machen, das soll es ja auch geben? Dann ging alles ganz schnell. Die Ampel sprang auf grün, aber die Frau mit ihrem Baby stand inzwischen direkt an meinem Auto. Losfahren oder die Scheibe herunterlassen? Ich griff in den Rucksack neben mir, fühlte als erstes eine Apfelsine, die reichte ich durch das Fenster nach draußen. Hinter mir war ein Hupen, ich fuhr los. Im Rückspiegel sah ich noch, wie sich die Mutter mit ihrem Kind auf die Verkehrsinsel setzte und anfing, die Apfelsine zu schälen.
Ich habe mich geschämt: Dafür, dass es mir so gut ging und dieser Frau nicht. Und für meine Gedanken habe ich mich geschämt. Dass ich ihr unterstellt hatte, sie täte nur so als ob. Ein hässlicher Verdacht. Dass ich sie so verachten konnte. Es tut mir heute noch Leid, sie so angesehen zu haben.
Seitdem muss ich immer wieder an den Spruch von Calvin denken: Lieber ohne Hintergedanken aufrichtig, freundlich und vertrauensvoll sein ... als gegen den anderen hässlichen Verdacht hegen.“

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren