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Die Wunder Gottes sehen
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Die Wunder Gottes sehen

Gabriele Heppe-Knoche
Ein Beitrag von Gabriele Heppe-Knoche, Evangelische Pfarrerin, Kassel
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Wenn ich morgens aufwache und aufstehe, geht mein erster Gang zum Fenster. Ich ziehe die Gardine zur Seite und sehe hinaus in den Garten. Die Sträucher und der Rasen, die Staudenbeete liegen gerade jetzt bei diesem wundervollen Sommerwetter in der Morgensonne. Die ganze Welt ist so warm und glänzend. Die Sonnenstrahlen werfen helle Lichtflecken durch die Blätter der Bäume.

Und mir wird dabei ganz warm ums Herz. Der Tag fängt gut an. Auch wenn ich selbst gar nicht in der Sonne stehe, fühle ich mich vom Licht durchdrungen, - und die Seele wird weit und froh.

Jesus hat von sich gesagt: Ich bin das Licht der Welt. Ob Menschen, die ihm begegnet sind, sich wohl so gefühlt haben, so weit und froh? So durchdrungen von Wärme und Helligkeit? So jedenfalls stelle ich mir vor, was diese Menschen erlebt haben: Sie haben plötzlich sich selbst in diesem warmen Licht gesehen. Ihr eigenes Leben, die schönen Seiten, aber auch die schwierigen und traurigen Momente sind von seinem Licht und seiner Wärme angestrahlt.

Ich bin das Licht der Welt. Diesen Satz sagt Jesus zu einem, dem er begegnet. Der Satz steht in einer Geschichte im Johannesevangelium (Johannes 9). Sie erzählt davon, wie unterschiedlich Menschen sehen. Oder auch nicht sehen. Und es geht darum, was man versäumt, wenn man nicht sieht.

Die Geschichte geht so:
Jesus ist mit seinen Jüngern in Jerusalem unterwegs. Da sieht er einen Mann am Straßenrand betteln. Er ist blind geboren. Damals glaubten die Menschen, blind zu sein könne nur eine Strafe Gottes für eine schwere Sünde sein. Deshalb machten sie lieber einen Bogen um solche Leute. Sie wollten auf keinen Fall mit dieser Sünde in Berührung kommen. Und genauso fragen auch die Jünger: Haben seine Eltern Sünde und Schuld auf sich geladen? Oder war er es selbst?

Ich stelle mir diese Szene vor, wie sie da vor dem Blinden stehen. Er sieht sie nicht. Aber sie sehen alle auf ihn. Er hört sie vielleicht sprechen und spürt dabei ihre unbarmherzigen Blicke. Und dann diese unvermeidliche Frage. Als ob er sich diese Frage nicht schon oft genug selbst gestellt hat. Warum ich? Warum kann ich nicht so unbeschwert leben wie die anderen? Warum muss ich das aushalten, blind und ausgestoßen von den anderen?

Jesus sieht den Blinden auch. Die Frage der Jünger wischt er mit einem Satz beiseite. Keiner ist schuld. Nicht seine Eltern und auch nicht er selbst. Es sollen Gottes Werke, Gottes Wunder an ihm offenbar werden. Und dann heilt er ihn. Zugegeben – mit einer ungewöhnlichen Methode. Nicht mit Laser oder durch eine Operation so wie heute bei uns. Er streicht ihm einen Brei aus Spucke und Erde auf die Augen. Dann  schickt er ihn zum Teich Siloah, um sich zu waschen. Und: Plötzlich sieht er. Jesus, das Licht der Welt, durchdringt auch sein Dunkel.

Dieser Teil der Geschichte ist aber nur der Auftakt. Hier kann man sich wundern, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber was danach folgt, finde ich noch erstaunlicher. Ein Blinder kann wieder sehen. Aber keiner freut sich. Nachdem er sich den Brei von den Augen gewaschen hat, sieht er sich um. Erstaunt, ungläubig. Zuerst bemerken die Nachbarn etwas. Und dann auch die, die täglich an ihm vorübergingen, als er auf der Straße bettelte. Was ist das? Das ist doch der Blinde! Was ist mit ihm los? Kann er etwa sehen? sagen einige. Ach nein, sagen andere, das ist er nicht! Er sieht ihm nur ähnlich. Das kann er doch gar nicht sein. Sie sprechen ihn an und fragen ihn. Aber als er erzählt, was Jesus getan hat, da gibt es keinen Jubel und keine Freude. Nur Misstrauen und Skepsis. Die Leute trauen dem nicht, was sie sehen. Er sieht wieder, das ist offensichtlich. Aber sie wollen und können es nicht glauben. Das kann nicht wahr sein. Deshalb bringen sie den Mann zu den Pharisäern.

Als religiöse Experten sollen sie nun dazu Stellung nehmen. Aber auch die sind von der Sache wenig begeistert. Heute ist doch Sabbat, rufen sie. Hat Jesus das etwa an einem Sabbat getan? Geheilt? Ein frommer Mensch tut das nicht, nicht am Sabbat. Das kann nicht von Gott kommen.

Und weil sie alle nicht glauben, was sie doch vor Augen haben, rufen sie auch noch die Eltern herbei. War euer Sohn wirklich blind von Geburt an? Oder habt ihr uns all die Jahre getäuscht? So bedrängen sie die armen Eltern. Und am Ende stoßen sie den Mann aus der Synagoge aus. Sie wollen ihn nicht mehr sehen, denn seine Heilung wirft für sie Fragen auf, auf die sie keine Antwort wissen.

Ich sehe was, was du nicht siehst… Wie oft habe ich dieses Spiel mit meinen Kindern gespielt, als sie noch klein waren. Man muss dabei ganz genau hinsehen. In jede Ecke des Zimmers, auch da, wo man sonst eigentlich nie hinsieht. Es ist so etwas wie eine Sehschule für genaues Hinsehen. Manchmal habe ich mich dabei ertappt, wie ich etwas immer wieder übersehen habe. Es war einfach zu vertraut: Ein Buch, das schon seit Jahren genau dort im Regal stand. Das fällt einfach nicht mehr auf. Und etwas, das ich gar nicht an einer bestimmten Stelle vermutet hätte. Ich habe es  schlicht übersehen. Das gehört da nicht hin. Das Spiel zwingt dazu, ganz genau zu sehen. Man lernt, nicht nur selektiv wahrzunehmen. Es regt an, den Blick frei schweifen zu lassen und möglichst viel genau zu erkennen.

Die Geschichte aus dem Johannesevangelium kommt mir auch wie eine Sehschule vor. Es ist eine Geschichte gegen den eingefahrenen und oberflächlichen Blick.

Sehen ist eine wichtige Voraussetzung, um die Welt und die Menschen um uns zu erkennen. Sehen hilft uns, uns in der Welt zu orientieren – Wir finden sicher unsere Wege, wir hantieren mit Werkzeugen und anderen Dingen. Sehen hilft uns auch in den Gesichtern der Menschen zu lesen. Unter unseren Sinneswahrnehmungen ist das Sehen dominant. Alles andere, Hören, Schmecken, Riechen, Fühlen ist oft weniger ausgeprägt. Oder zumindest ist es uns weniger bewusst. Sehen bestimmt unsere Weltsicht. Das hört man ja schon am Wort. Welt-Sicht.

Sehen bestimmt unsere Weltsicht. Aber wir wissen auch: was wir sehen, kann mehrdeutig und trügerisch sein. Fotos kann man heute ganz leicht verändern. Die Falten werden wegretuschiert, die Haare auf dem Kopf ein bisschen voller. Schon sieht man 10 Jahre jünger aus. Das kann heute am Computer jedes Kind. Das Sehen kann man manipulieren. Oft verstehen wir auch nicht ohne weitere Erläuterungen, was wir sehen. Auf einem Bild oder in einer Nachrichtensendung wird nämlich nur ein kleiner Ausschnitt gezeigt. Den kann man so oder so deuten. Und man weiß durch Untersuchungen und auch aus eigener Erfahrung, dass man in seinem Sehen auch immer schon beeinflusst ist. Beeinflusst durch innere Voreinstellungen, die meine Wahrnehmung lenken. Wir sehen selektiv. Ich sehe das, was ich sehen will, und das, was ich schon kenne und interessant finde. Und bei manchem sehe ich einfach nicht hin, weil es für mich zu unbedeutend, zu schwierig, zu unangenehm ist. Gerade bei Zeugenaussagen wird das manchmal ganz offensichtlich. Menschen sehen Situationen oder Personen unterschiedlich. Sie achten auf ganz verschiedene Dinge und andere nehmen sie gar nicht in den Blick.

Auch die biblische Geschichte zeigt es. Sehen ist gesteuert durch Erfahrungen und Lebenseinstellungen. 

Gehe ich, so wie die Nachbarn in der Geschichte, davon aus, dass es spontane Heilungen einfach nicht gibt, dann kann das, was Jesus getan hat, nur eine Täuschung sein. Auf keinen Fall ist es ein Anlass, sich zu freuen. Da ist man lieber misstrauisch. Man muss aufpassen, nicht belogen und betrogen zu werden.

Sehe ich in einem Menschen so wie die Jünger und die Pharisäer immer nur einen Minderwertigen, einen Schuldigen, der sein Leben verpfuscht hat, dann kann ich mich nicht mit ihm freuen. Selbst wenn sich für sein Leben ganz neue Perspektiven auftun. Dann folgt auf dieses positive Ereignis immer nur das große Aber. Aber das wird doch jetzt ganz schwierig für ihn. Aber er hat doch nichts gelernt, er kann doch nur betteln. Aber wird das denn auch von Dauer sein? Und so wird das Wunder seines Lebens nach und nach klein geredet.

Das ist ein Grundzug, den ich bei vielen Menschen auch heute wahrnehme. Das macht mich nachdenklich. Warum in allem gleich das Negative sehen?

Auch in Gesprächen erlebe ich es immer wieder. Das Gute darf nicht einfach gut bleiben. Gleich werden Bedenken geäußert. Alles wird durch die kritische Brille betrachtet. Manchmal scheint es mir so, als hätten gerade wir Deutschen diese Haltung geradezu perfektioniert. Es erstaunt und erschreckt mich, wie schnell alles klein und schlecht geredet wird. Vor allem das, was wir an Sicherheit und Wohlstand in einem der reichsten Länder der Erde tagtäglich erfahren. Viele sehen auch nicht, welche Freiheiten wir genießen. Skepsis und Misstrauen lenken den Blick nur noch auf das, was nicht gelingt. Und auf das, was noch mehr und noch besser sein könnte. Ja sogar besser sein müsste -, auf das, was fehlt. Sicher, das gibt es auch. Aber sehen wir darüber das Gute nicht mehr, dann wird alles schief.

Es entsteht ein verzerrtes Bild. Man verstellt sich selbst den Blick auf die Wunder Gottes. Und damit nimmt man sich auch Lebensfreude. Der erste Blick in den Garten am Morgen – die Schönheit der Natur, die Wärme der Sonne, das Licht des Tages – ebenso wie die Liebe meiner Kinder, die Begegnung mit vielen hilfsbereiten Menschen in meinem Beruf, dass ich morgens ohne Schmerzen aufstehen kann – das alles ist nicht selbstverständlich. Auf die kleinen täglichen Wunder sehen, in meinem Leben und im Leben von anderen, darauf kommt es an. Das bringt uns voran. Das ermutigt mich und stärkt mich auch für Tage, die schwer und dunkel sind. Traurig, wenn ich das nicht sehen könnte, weil mir Skepsis, vielleicht auch Neid und Unzufriedenheit den Blick verstellen.

Ich möchte nicht zu denen gehören, die die Wunder Gottes nicht wahrnehmen können. Ich möchte, dass mir so wie dem Blinden in der Geschichte die Augen geöffnet werden. So kann ich erkennen, wie Gott in der Welt wirkt. Die Geschichte warnt uns davor, dass wir am Ende Sehende sein könnten, die doch nicht sehen, weil unser Blick verengt und verstellt ist. Die Geschichte lädt ein, mit offenen Augen und offenen Herzen durch die Welt zu gehen und Jesu Licht zu entdecken. Es aufzuspüren in unserem Leben, in den großen und kleinen Dingen in unserem Alltag. Und mit Lust und Freude zu leben.

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