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Das Mädchen vor dem Spiegel
Bildquelle: pixabay

Das Mädchen vor dem Spiegel

Andrea Weitzel
Ein Beitrag von Andrea Weitzel, Katholische Schulseelsorgerin und Religionslehrerin, Hanau
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Leise surrt der Videobeamer. Die Fernbedienung klickt – und 25 Augenpaare meines Religionskurses an der Hanauer Mädchenrealschule St. Josef starren auf ein Bild. Das Bild erstrahlt in leuchtenden Farben. Und es wirkt. Es dauert einen Moment - dann bewegen sich die ersten Hände nach oben.

Ich bin gespannt, was meine Schülerinnen entdeckt haben. Die Mädchen beschreiben, was sie sehen: Ein Gesicht: Es ist hübsch und rosig. Ziemlich jung. Es besitzt stilvoll geschminkte Augen und seidiges, blondes Haar. Und doch stimmt etwas nicht: Das Gesicht erscheint gleichzeitig von der Seite und von vorn. Das irritiert.

Ein weiterer Klick der Fernbedienung und das nächste Bild erscheint. Einen Moment lang herrscht Stille. Dann entdecken die Schülerinnen die Gegensätze zwischen beiden Bildern. Es ist erneut ein Gesicht zu sehen. Aber statt strahlender, heller Farben dominieren hier dunkle, kühle Farbtöne. Das rosige Gesicht ist dunklen Augenhöhlen und eingefallenen Wangen gewichen. Keine Spur mehr von dem schönen Haar. Und irgendwie scheinen die Formen des Gesichts auseinanderzufallen.

Wieder klickt die Fernbedienung und es wird klar: Beide Bilder sind Ausschnitte aus einem viel größeren Gemälde: Die beiden Gesichter schauen sich an. Die dazugehörigen Körper sind einander zugewandt.

Ich verrate den Schülerinnen, dass Pablo Picasso der Maler ist. Picasso, der bedeutende Künstler des 20. Jahrhunderts, der im Spiel der Formen und Perspektiven die Kunstrichtung des "Kubismus" geschaffen hat. Das Bild, welches wir von ihm betrachten, trägt den Titel "Mädchen vor dem Spiegel".

Längst haben die Schülerinnen erahnt, dass dieses Bild eine tiefergehende Botschaft beinhaltet. Auf die Suche danach begeben sie sich mit so großer Intensität, dass es mich zugleich erstaunt und dankbar macht. Gemeinsam nähern wir uns einer Erkenntnis, die auch in meinem erwachsenen Leben immer wieder von Bedeutung ist.

Es geht um das Annehmen der eigenen Vergänglichkeit. Was jung war, wird alt. Was strahlend war, verblasst. Körperliche und geistige Fähigkeiten lassen nach.
 

Doch Picassos "Mädchen vor dem Spiegel" schenkt mir einen heilsamen Gedanken: Wie ein Blitz durchfuhr es eine Schülerin, als sie genau dies erkannte: Sie entdeckte nämlich, dass das junge, schöne Mädchen die gealterte Gestalt ihrer Selbst zu umarmen scheint!

Diese Umarmung bedeutet zweierlei: Zuerst: Nimm an, dass vieles im Leben vorbeigeht. Vieles, was ich erlebt habe, hinterlässt aber Spuren und lässt mich erst zu der werden, die ich bin.

Wichtiger jedoch ist mir persönlich die zweite Bedeutung, die in dieser Umarmung steckt: Nimm an, was es jetzt schon an dunklen und vielleicht auch hässlichen Seiten an dir gibt. Schau diesem in die Augen – und gewinne so neuen – jungen – Schwung. So habe ich zum Beispiel schon die Erfahrung gemacht, dass ein privates oder berufliches Scheitern nicht für lange Zeiten auf mir lasten muss, sondern, dass ich es akzeptieren kann. Das ermöglicht einen kraftvollen Neubeginn.

 

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