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Selbst ist das Dorf

Selbst ist das Dorf

Dr. Ulf Häbel
Ein Beitrag von Dr. Ulf Häbel, Evangelischer Pfarrer, Laubach-Freienseen

„Selbst ist das Dorf“. Unter diesem Titel hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen mehreren Seiten langen Artikel veröffentlicht. Das Thema Dorf und das Leben auf dem Land sind aktuell. Es gibt viele sozialwissenschaftliche Untersuchungen dazu.

Auch mein Dorf, in dem ich seit sechsundzwanzig Jahren lebe – Freienseen im Vogelsberg – ist untersucht und beschrieben worden. In den Statistiken, welche die Sozialwissenschaftler über das Leben auf dem Land erstellt haben, ist nahezu alles erfasst: wie viele Leute zu- oder weggezogen sind, wie viele Kinder geboren wurden, wie viele Menschen starben. Die Wissenschaftler haben untersucht, wo die Leute arbeiten und was sie verdienen, welcher Religion sie angehören, in welchem Verein sie aktiv sind, wo sie einkaufen oder ihre Freizeit verbringen.

Je nachdem wie die Zahlen in der Statistik aussehen, ist auch schnell das Urteil gefasst: Schrumpfende, sterbende Dörfer, die man vielleicht besser aufgeben sollte. Das Berlin-Institut – ein renommiertes sozialwissenschaftliches Unternehmen – hat achtzehn Dörfer im Vogelsbergkreis auf eine „rote Liste“ gesetzt. Das sind Orte, die Einwohner verlieren. Wüstungen nennt man solche verlassenen Dörfer. Manche fragen kritisch: „Muss der Staat jedem Nest weiterhin eine Müllabfuhr, jedem Landlustigen die Pendlerpauschale nebst Wasserleitung bezahlen?“ Die Antwort darauf lautet, in Frageform verkleidet: „Wäre es nicht sinnvoller schwächelnde Regionen aufzugeben und stattdessen mehr Geld in Gebiete zu investieren, in denen mehr Menschen leben? Vermutlich schon.“

So reden Menschen, die das Dorfleben von außen betrachten und allein von Zahlen und Bilanzen her beurteilen. Ganz anders klingt, was die Menschen, die auf dem Land leben, sagen: Wir sind hier daheim und bringen uns ein.  Diese unterschiedliche Sicht gibt es auch in der Bibel. Bei dem Propheten Jeremia kann man das nachlesen. Die Israeliten waren nach einem verlorenen Krieg ins Exil nach Babylon verschleppt worden. Von außen betrachtet lebten sie dort wie Elendsgestalten, namenlose Sklaven in einem fremden Land, Ausländer, die nichts galten. Doch der Prophet Jeremia sagt zu ihnen: „Suchet der Stadt Bestes!“ (Jeremia 29,7). Suchen, das heißt: Mischt euch ein. Über den Ist-Zustand zu klagen ist das eine. Das Leben hoffnungsvoll von innen her zu gestalten, ist das Andere.

Mit dem Blick von innen sieht das Dorf anders aus. Da höre ich solche Worte: „Ich bin hier daheim. Ich kenne die Nachbarn und die kennen mich. Wir helfen uns, wenn es nötig ist. Die Kinder können rumlaufen und im Wald beim Dorf Budchen bauen und die Natur entdecken. Und die Alten gehen – manche auf ihren Rollator gestützt – durch das Dorf. Sie gehören dazu. Sie haben den Wunsch: Leben und sterben, wo sie daheim sind.“ Es ist immer gut, die Lebensgefühle der Menschen nachzuempfinden, ihren Wunsch nach Heimat zu achten, ihr Zugehörigkeitsgefühl zu respektieren. Wir werden in den Dörfern wohl weniger und auch älter, aber auch bunter und engagierter. Da gilt die Aufforderung der Bibel: Suchet das Beste für euer Dorf; denn wenn es dem gut geht, dann geht es auch seinen Bürgern gut.

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