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Zivilcourage -Erinnerung an Helden des Widerstands

Zivilcourage -Erinnerung an Helden des Widerstands

Dr. Ursula Schoen
Ein Beitrag von Dr. Ursula Schoen, Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt

Im Oktober 1962 wurde in einem Außenbezirk von West-Berlin eine Bretterbude mit der Aufschrift „Gärtnerei Immergrün“ errichtet. Von außen sah sie aus wie ein harmloser Verkaufsstand. Innen drin aber wurde kräftig gebuddelt. Von hier aus gruben Fluchthelfer einen Tunnel unter der Berliner Mauer. Durch ihn sollten Menschen aus Ostberlin fliehen können. Der Tunnel war fast fertig, da haben ihn Spitzel der Staatssicherheit entdeckt. Über zwanzig Menschen, fluchtbereit für den Weg in den Westen, wurden am 11.November auf der Ostseite verhaftet.

Die Tunnelgräber selbst ahnten davon nichts. Wenige Tage später kamen sie auf der anderen Seite an. Hier wartete die Stasi auf sie. Von heute auf morgen wurde den Fluchthelfern aus dem Westen der Prozess gemacht. Sie wurden zu lebenslangen Zuchthausstrafen in DDR-Gefängnissen verurteilt. Der Tunnel sollte umgehend gesprengt werden, obwohl man weitere Menschen im Tunnel vermutete. Das verhinderte ein unbekannter Mitarbeiter der Staatssicherheit. Er schnitt unbemerkt das Zündkabel durch. Er hat damit vier Menschen das Leben gerettet.

Die Geschichte des Tunnels ist auf dem sogenannten Berliner Mauerweg zu lesen. Auf rund 160 Kilometern markiert die Strecke den ehemaligen Verlauf der Berliner Mauer. Auf leuchtenden Stelen sind an verschiedenen Stellen die Geschichten von Einzelnen nachgezeichnet, die bei einem Fluchtversuch ums Leben kamen. Es sind viele.

Wenn wir uns an den Fall der Mauer erinnern, denken wir zuerst an die vielen Menschen, die mit Kerzen und Gebeten, in Demonstrationszügen und mutigen politischen Reden in der DDR zur Friedlichen Revolution beigetragen haben. Weniger im Rampenlicht stehen die Geschichten der vielen verborgenen Helden. Menschen wie jener Stasibeamte, der den Mut hatte, das Zündkabel durchzuschneiden, um Schlimmeres zu verhindern. Einzelne, die sich dem Druck der Parteilinie widersetzt haben, die menschlich bleiben wollten. Sie haben kleine Spielräume im Alltag ausgelotet: Sie haben Kontakt zu Ausreisewilligen gehalten, als Briefträger für vertrauliche Post fungiert oder in der Haft Gefangenen eine besondere Versorgung zukommen lassen.

Für ihre Haltung gibt es das große Wort: Zivilcourage. Zivilcourage zeigt sich in den Situationen, in denen Werte wie Menschenwürde und Gerechtigkeit verletzt werden. Situationen, in denen die seelische und körperliche Unversehrtheit von Menschen auf dem Spiel steht. Wörtlich übersetzt bedeutet Zivilcourage Bürgermut. Wer Zivilcourage zeigt, fühlt: Hier tut der Staat einem Menschen Unrecht. Hier bedroht eine Gruppe andere Menschen. Wer Zivilcourage zeigt, ergreift die tiefste menschliche Freiheit, das Recht und die Pflicht, im anderen nicht eine Bedrohung, sondern einen Menschen zu sehen.

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