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Nelly Sachs

Nelly Sachs

Anne-Katrin Helms
Ein Beitrag von Anne-Katrin Helms, Evangelische Pfarrerin, Erlösergemeinde Frankfurt-Oberrad

„Ehe es wächst, lasse ich es euch erlauschen“ (Jes 42,9). Dieser geheimnisvolle Satz steht in der Bibel und zwar beim Propheten Jesaja. Ich stelle mir vor, wie jemand ganz fest sein Ohr an die Erde drückt. Er will hören, ob sich in ihr etwas tut. Voller Erwartung presst er den Kopf auf den Boden.

Lauschen – das ist nicht einfach nur Hören. Es ist Hören im höchsten Maß. Aufmerken, Offensein für das, was darunter liegt. Lauschen kann man nicht erzwingen. Beim Lauschen muss ich die Ohren weit aufsperren, genau hinhören, mich dorthin neigen, woher die Worte und Geräusche kommen. Ich erlausche Hoffnungstöne. Ich öffne mich für das, was ich fast nicht in Worte fassen kann und lasse zu, dass es mich doch maßgeblich bestimmt. Das Lauschen ist eine große Kraft in meinem Leben.

Die deutsche Dichterin jüdischen Glaubens Nelly Sachs hat 1945 ein Gedicht über das Lauschen geschrieben. „Lange haben wir das Lauschen verlernt“ heißt die erste Zeile. Für sie war Lauschen lebenswichtig. Nur mit knapper Not war ihr die Flucht aus Nazi-Deutschland nach Stockholm geglückt. Flucht und Vertreibung, Angst und Dunkelheit hat sie in vielen Gedichten variiert. Heute vor 50 Jahren erhielt sie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Trotz allem Schrecken hat sie nicht aufgegeben, noch im Leisesten einen neuen Anfang zu vernehmen.

Die griechische Kultur, so sagt man, ist eine Kultur des Sehens. Die Griechen haben Statuen, große Architektur, das Schauspiel hervorgebracht. Das Judentum ist eher am Hören orientiert. In der hebräischen Bibel hört Mose die zehn Gebote auf dem Berg Sinai. Der Prophet Elia findet Gott ebenfalls beim Hören, in einem Säuseln. Und Jesaja verheißt den Israeliten: „Ehe es wächst, lasse ich es euch erlauschen“ (Jes 42,9).

So ist Glaube für mich: Ich lausche, ob ich Gottes Stimme höre, tief in meinem Innern. Das, was er für mich ist, kann ich erlauschen. Es ist sehr leise und wächst langsam. Der Keim hat noch nicht die Erde durchbrochen. Dazu muss ich mein Ohr ganz fest auf die Erde pressen. Ich brauche Stille, um den Keim wachsen zu hören.

Für mich ist so ein Keim die Zusage: Gott meint es gut mit mir. Er legt mir nicht extra Schwierigkeiten auf, um mich zu prüfen. Probleme, die ich im Leben habe, muss ich nicht alleine bewältigen. Gott schickt mir Menschen, die mir zur Seite stehen. Ich vertraue darauf: Dieser Keim hat Kraft. Eines Tages wird etwas gewachsen sein, woran ich mich festhalten kann.

Unabhängig davon, wie ich mich gerade fühle, steht Gottes Zusage. Sie verdorrt nicht. Sie bleibt. Gott meint es gut mit mir. Das Erstaunliche ist: Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich mit meinem Vertrauen in Gottes Zusage über mich selbst hinauswachse. Bei Nelly Sachs heißt das so:

„Presst, o presst an der Zerstörung Tag
An die Erde das lauschende Ohr,
Und Ihr werdet hören 
Wie im Tode / das Leben beginnt.“

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