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Schon wieder Weihnachten
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Schon wieder Weihnachten

Johannes Meier
Ein Beitrag von Johannes Meier, Evangelischer Pfarrer und Journalist, Kassel

Guten Morgen – und fröhliche Weihnachten! Nein, keine Panne, der Tontechniker hat nicht den falschen Beitrag abgefahren. Sie haben richtig gehört: Fröhliche Weihnachten! – Dieser Gruß gilt heute jedenfalls allen russisch-orthodoxen Christen: Sie feiern Weihnachten nicht am 25. Dezember, sondern erst am 7. Januar. Der Grund dafür sind unterschiedliche Kalender. Die russisch-orthodoxe Kirche richtet sich nämlich nicht nach unserem, dem gregorianischen, sondern nach dem julianischen Kalender. Und bei diesem fällt das Jahr geringfügig kürzer aus: Alle 125 Jahre ergibt sich dadurch ein Abstand von einem Tag. Zum Zeitpunkt der kommunistischen Revolution, mit welcher dann auch in Russland der gregorianische Kalender eingeführt wurde, betrug die Differenz zwischen den beiden unterschiedlichen Zeitrechnungen 13 Tage. Aus dem 25. Dezember war damit gewissermaßen der 7. Januar geworden.

Während die russisch-orthodoxen Christen also heute mit einem üppigen Festessen lustvoll ihre vorweihnachtliche Fastenzeit brechen, können wir inzwischen Weihnachtsplätzchen kaum noch sehen, sofern überhaupt noch Restbestände vorhanden sind. Während nun anderswo die Wohnungen in frischem, festlichem Glanz erstrahlen, fährt bei uns die Feuerwehr oder die Müllabfuhr bereits von Haus zu Haus, um die inzwischen abgeschmückten und ausgemusterten Weihnachtsbäume zu entsorgen.

Gut so. Denn auch mit Blick auf das orthodoxe Weihnachtsfest kann und will ich mir – oder Ihnen – heute keine erneute Weihnachtsstimmung einreden. Egal ob am 25. Dezember oder am 7. Januar: Weihnachten, das ist eben nur einmal im Jahr. Genau wie Ostern. Oder wie der Hochzeitstag oder der Geburtstag. Besonderes braucht diese Einmaligkeit. Sonst könnte man sich ja auch nicht darauf freuen. Und erst recht nicht danach sehnen.

Tante Milla allerdings würde hier energisch wiedersprechen. Der Schriftsteller Heinrich Böll erzählt von jener resoluten älteren Dame in seiner Geschichte „Nicht nur zur Weihnachtszeit“. Weihnachten ist für Tante Milla zum Lebensinhalt geworden. Und so erleidet sie Anfang Januar beim Abschmücken des Weihnachtsbaumes einen hysterischen Anfall. Onkel Franz sieht nur eine Lösung: Der Baum bleibt geschmückt und Weihnachten wird ab jetzt jeden Tag gefeiert. Das mag gut sein für Tante Milla, doch die Nerven der übrigen Familienmitglieder liegen bald schon blank.      

Was wäre wohl, wenn Weihnachten nicht nur einmal im Jahr gefeiert würde, also am 24. und 25. Dezember wie bei uns oder eben am 6. und 7. Januar, wie dieses Wochenende bei den russisch-orthodoxen Christen? Was wäre, wenn jeden Tag Weihnachten wäre? – Dieser Frage geht Heinrich Böll in seiner Kurzgeschichte „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ auf den Grund. Weil Tante Milla nicht mehr ohne Weihnachten leben kann, verordnet Onkel Franz seiner Gattin eine „Tannenbaumtherapie“. Es wird nun praktisch über zwei Jahre hinweg jeden Abend – also Winter wie Sommer – Heiligabend gefeiert mit allem Drum und Dran: mit festlich geschmücktem Baum, einem mechanischen Weihnachtsengel, der Abend für Abend „Frieden, Frieden, Frieden“ flüstert, mit familiärem Beisammensein und so weiter. Aber die schrullige Tante Milla geht als einzige in der Verwandtschaft unbeschädigt aus dieser Dauerweihnacht hervor. In der übrigen Familie hingegen zeigen sich bald deutliche „Verfallserscheinungen“: Zuerst werden die Erwachsenen des ewigen Spekulatiusknabberns überdrüssig. Dann bekommt das gutbürgerliche Familienidyll immer größerer Risse: Fremdgehen, Tobsuchtsanfälle, Auswanderung ganzer Familienteile nach Afrika und sogar der Übertritt vom Katholizismus zum Kommunismus kommen vor. Mit der Zeit lassen sich die Verwandten des Abends einer nach dem anderen bei Tante Milla durch arbeitslose Schauspieler vertreten. Schließlich müssen die Kinder durch Wachspuppen ersetzt werden. Der Verfall ist unaufhaltsam.

Diese Geschichte ist zu einer der erfolgreichsten von Heinrich Böll geworden. Er hat sie im Jahr 1952 geschrieben, in der Nachkriegszeit. Eine beißende Satire auf eine im ewigen alten Trott gefangene Gesellschaft, die keine Erneuerung zulassen mag.

Dass eine solche Überdosis Weihnachten wie in Bölls Geschichte auf die Dauer schädlich ist, leuchtet ein. Doch Das Fest der Liebe kann auch heilsam sein – ganz egal ob man es Anfang Januar wie in Russland, Ende Dezember wie hierzulande oder vielleicht gar schon am 24. Oktober feiert: So geschehen vor ein paar Jahren in dem Dorf St. George in Kanada.

Dort wollte der Kleine Evan unbedingt noch einmal das Weihnachtsfest erleben, doch die Ärzte befürchteten, dass der krebskranke Siebenjährige es nicht mehr bis zum Dezember schafft. Daraufhin beschlossen die Dorfbewohner, Weihnachten um zwei Monate vorzuverlegen: die Nachbarn schmückten die Straße mit Weihnachtsbeleuchtung und die örtliche Feuerwehr marschierte pünktlich am 24. Oktober mit ihrer Weihnachtsparade direkt vor Evans Fenster vorbei. Von überall auf der Welt schickten Menschen Grüße an den todkranken Jungen, der sich so danach gesehnt hatte, noch einmal Weihnachten zu feiern.

„Frohe Weihnachten!“ wünsche ich heute all meinen russisch-orthodoxen Glaubensgeschwistern. Ich selbst kann aber gut damit leben, dass Weihnachten vorbei und das Wohnzimmer wieder tannenbaumfrei ist. Ein Weihnachtsfest in Endlosschleife wie bei Heinrich Bölls Tante Milla wäre mir ein Graus. Bloß nicht! Die Weihnachtssehnsucht des krebskranken Jungen aus Kanada aber berührt mich durchaus. Vielleicht steckt ja in dieser Sehnsucht die tiefe Erkenntnis, dass die Welt tatsächlich jeden einzelnen Tag ein wenig auf das angewiesen ist, was Weihnachten eigentlich ausmacht. Und das ist eben nicht Tante Millas Tannenbaum, das sind nicht Evans Geschenke und das ist auch nicht die Parade der kanadischen Dorffeuerwehr draußen vorm Fenster. Es ist die wunderbare Geschichte von dem Neugeborenen in der Krippe, von der Nähe Gottes zu den Menschen, von dem, was die ganz und gar nicht mechanischen Engel den Hirten auf dem Felde zuriefen: Es ist die  Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit in einer unfriedlichen und ungerechten Welt. Diese Hoffnung macht Mut, sich dem alten Trott zu wiedersetzen. Also nicht wie Tante Milla ewig auf dem Sofa sitzen und aufs Lametta starren. Stattdessen in Bewegung kommen wie Evans Nachbarn in St. George. Nicht Müde werden, in diesem neuen Jahr das Wunder wahr werden zu lassen. An guten Vorsätzen festhalten. Aktiv Frieden stiften und den je eigenen Teil dazu beitragen, dass wir in unserer Welt gut miteinander auskommen. Nicht wegschauen, wenn Menschen ausgegrenzt werden und ihnen Unrecht widerfährt. Die Politik und die Gesellschaft nicht in die falschen Hände geraten lassen.

Ich finde es großartig, wenn diese Weihnachtsbotschaft nicht nur im Dezember verkündet wird, sondern auch am 24. Oktober für den kranken Evan in Kanada oder eben heute für alle russisch-orthodoxen Christen: Dadurch wird nämlich deutlich, dass das Datum der Weihnachtsfeiertage letztlich nicht mehr als eine bloße Kalender-Konvention ist, von Menschen festgelegt. Mit der himmlischen Botschaft, die dahinter steckt, hat das Gott sei Dank nichts zu tun. Die hängt nicht an längst abgerissenen Kalenderblättern und ist auch nicht angewiesen auf irgendein gesetzliches Feiertagsdatum. Weder auf den 25. Dezember noch auf den 7. Januar. In diesem Sinne: Fröhliche Weihnachten! Ehre sei Gott und Friede auf Erden! Heute. Morgen. Und das ganze Jahr.

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