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Kreuz und Identität
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Kreuz und Identität

Dr. Ansgar Wucherpfennig
Ein Beitrag von Dr. Ansgar Wucherpfennig, Jesuitenpater, Professor für Neues Testament an der Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt

Ein Freund von mir ist Künstler und Fotograf, er hat mir neulich eine Fotosammlung geschenkt mit dem Titel: Kreuz-Meditation. Seine Fotos zeigen, wie oft er im Alltag das Kreuz wiedergefunden hat, längst nicht nur in Kirchen: Auf seinen Fotos kreuzen sich zwei Kondensstreifen im blauen Himmel, oder Holzlatten, um die sich Blumen winden; oder spielende Kinder haben bunte Kreidekreuze auf einen Plattenweg gemalt. Das Kreuz ist da einfach eine Form, die uns ständig im Alltag begegnet.

Und diese Form haben auch Philosophen im antiken Griechenland als Zeichen entdeckt, lange bevor Jesus am Kreuz hingerichtet worden ist. Im gesamten Kosmos fanden sie das Kreuz wieder: Überall dort, wo sich zwei Linien kreuzen, von der Straßenkreuzung über das Pluszeichen bis zu dem Kreuz zwischen der Erdumlaufbahn der Sonne und dem Himmelsäquator im Weltall.

Wenn Paulus als erster im Neuen Testament vom Kreuz schreibt, hätte er sogar auch auf die Zustimmung von Philosophen rechnen können, aber er tut es gerade nicht. Er ist nicht nach Korinth gekommen, schreibt er der Gemeinde dort, um bei ihnen „glänzende Reden oder gelehrte Weisheit vorzutragen“ (1 Kor 2,1). Deshalb habe ich viele Fragen, wenn das Kreuz als Identitätszeichen für christliche Kultur herhalten soll. Das Kreuz hat Christen als Erkennungszeichen längst nicht nur gutgetan. Wie viel Unrecht ist unter diesem Zeichen auch verantwortet worden! Paulus schreibt den Korinthern auch nicht von einem Zeichen, mit dem sie sich identifizieren sollen, sondern vielmehr von dem Gekreuzigten, von Christus. Wörtlich schreibt er: „Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkünden Christus, als den Gekreuzigten. (…) Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1,22).

Kurz nach der politischen Wende 1989 hat in einem Haus von uns Jesuiten eine Köchin aus der ehemaligen DDR angefangen zu arbeiten. Sie kannte das Kreuz kaum. In der DDR war das Kreuz aus der Öffentlichkeit und dem Privatleben vieler Bürger verbannt worden. Als sie zum ersten Mal in unsere Küche kam und dort das Kreuz an der Wand sah, meinte sie: Unter diesem gequälten Toten soll ich kochen? Nein, das kann ich nicht. Die Frau hat mich beeindruckt. Das Kreuz, oder genauer der Gekreuzigte, war für sie nichts Banales. Für sie hing am Kreuz ein gequälter Leichnam.

Mir fällt das oft gar nicht mehr auf, weil der Anblick des Kreuzes für mich zu selbstverständlich geworden ist. Deshalb schaue ich die Kreuzbilder meines Fotografen-Freundes gern an: Sie machen mich aufmerksamer für die Kreuze, die ich überall um mich herum sehe. Politiker müssen das Kreuz dazu nicht in öffentlichen Räumen aufhängen, um damit die Reviere christlicher Kultur und ihrer Macht abzustecken. Viel wichtiger ist, dass sie sich auf die Seite der Zu-kurz-Gekommenen und Leidenden stellen – wie Christus es getan hat, an den mich das Kreuz erinnert.

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