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Hat sich Jesus geritzt?
gettyImages/Bulat Sivia

Hat sich Jesus geritzt?

Daniel Lenski
Ein Beitrag von Daniel Lenski, Evangelischer Pfarrer, Königstein-Falkenstein
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„Hat sich Jesus geritzt?“ Das hat mich ein Konfirmand gefragt. Bei einem Treffen mit der Jugendgruppe in meiner Kirchengemeinde sprachen wir über Jesus. Wie er ans Kreuz genagelt wurde. Wie sein Körper blutete und warum es beim Abendmahl bis heute heißt: „Christi Blut für dich vergossen.“

„Hat sich Jesus geritzt?“

„Hat sich Jesus geritzt?“ Der Konfirmand hat bei dieser Frage gekichert, mich aber auch herausfordernd angeschaut. Die anderen Jugendlichen wurden ganz still. Das Thema beschäftigte die 14-Jährigen.

„Tag der Aufmerksamkeit für selbstverletzendes Verhalten“

Ritzen. Das bedeutet: Jemand kratzt oder schneidet sich selbst die Haut auf mit einem Rasiermesser oder einem anderen scharfen Gegenstand. Bis es blutet. Das ist Ausdruck für eine psychische Erkrankung. Man nennt es „selbstverletzendes Verhalten“. Heute ist der „Tag der Aufmerksamkeit für selbstverletzendes Verhalten“. Er wird besonders in den USA und in Großbritannien seit über 20 Jahren begangen.

Ritzen: Der innere Schmerz soll auch nach außen sichtbar sein

Wer sich ritzt, hat ein Problem. Mit sich selbst und oft auch mit anderen. Wer sich selbst verletzt, überträgt das psychische Unwohlsein auf den Körper. Die Seele blutet  und – das soll der Körper auch. Der innere Schmerz soll sich für mich körperlich bemerkbar machen.

Veränderungen in der Pubertät können zum Problem werden

Ich denke an meine eigene Zeit in der Schule. Wie Mitschüler:innen auch im Sommer mit langärmligen Hemden herumliefen oder große Stulpen anzogen, um die Schnittflächen zu kaschieren. Eine Freundin hat mir Jahre später die hellen Streifen auf ihrem Arm gezeigt, die noch zurückgeblieben waren. Es war eine Zeit, in der sich so viel verändert hat: das Verhältnis zu den eigenen Eltern, die auf einmal furchtbar anstrengend werden. Neue Gruppen, in denen es um Zugehörigkeit geht: Bin ich cool genug? Bin ich hübsch genug? Wer bin ich eigentlich? Und: Wie passt dieser Körper zu mir?

Jugendliche brauchen besondere Begleitung in Zeiten von Lockdown, Homeschooling und Wechselunterricht

Die Konfi-Gruppe, aus der die Frage mit dem Ritzen kam, ist in diesem Alter. „Hat sich Jesus geritzt?“ Das kann eine Provokation sein. Aber auch ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Jugendliche brauchen besondere Begleitung. In dieser Zeit von Lockdown, Homeschooling und Wechselunterricht mehr denn je. Sie brauchen nicht nur die Eltern, mit denen sie ohnehin schon den ganzen Tag in der Wohnung verbringen. Vielleicht werden gerade jetzt die Patentante, der ältere Cousin oder die Konfi-Teamerin besonders wichtig. Und wenn die dann erfahren, dass sich jemand selbst verletzt, sollten sie sich professionelle psychologische Unterstützung suchen – für sich selbst und für den betroffenen Jugendlichen.

Was gesagt wird, bleibt in der Gruppe

„Hat sich Jesus geritzt?“ Seitdem der Konfirmand das gefragt hat, sprechen wir bei unseren Gruppentreffen per Video häufiger über das, was uns bedrückt. Wenn wir über den Bildschirm miteinander reden, halten die Konfis einen Stein in die Kamera und berichten über das, was gerade nicht gut läuft. Was dann gesagt wird, bleibt in der Gruppe. So bildet sich langsam ein Kreis des Vertrauens.   

Jesus kannte Schmerzen und finstere Tage

Jesus hat sich übrigens, soweit wir wissen, nicht geritzt. Andere haben ihn verletzt. Nachdem er zum Tod verurteilt war, haben sie ihn geschlagen und ihm eine Dornenkrone aufgesetzt. Jesus kannte Schmerzen. Finstere Tage gehörten zu seinem Leben. Mich lässt das glauben: Gott versteht mich und ist bei mir, egal ob ich gerade schwierige Zeiten durchmache oder lachen kann.

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