Vom Verlieren und Finden
Es ist Montag. Mein freier Tag und ab und zu gönne ich es mir, diesen Tag fernab von meinem Schreibtisch und meinen Gemeinden zu verbringen und fahre für einen Tag Auszeit nach München. Dort treffe ich mich mit meinem geistlichen Begleiter und halte Rückschau auf die hinter mir liegenden Wochen, kann mich an dem Schönen freuen und das weniger Gelungene zurücklassen. Ich liebe meine Arbeit und habe als Gemeindereferentin sicherlich den schönsten Beruf der Welt, doch manchmal kann das ganz schön anstrengend sein. So brauche ich ab und zu diese Zeit, um mit meinen Gedanken und Gefühlen all dem Trubel der vergangenen Wochen hinterherzukommen.
Keine Angst haben, verlorenzugehen
Nun bin ich also in München. Die Stadt ist besonders voll. Ich habe in der S-Bahn einen Stehplatz ergattert und vor mir sitzt eine Mutter mit ihrer etwa fünfjährigen Tochter. Die beiden fallen mir auf, denn die Mutter ist ganz auf ihr Kind und nicht auf ihr Smartphone konzentriert. Das sieht man gar nicht mehr so oft, und irgendwie muss ich den beiden zuhören. Die Mutter wendet sich ihrer Tochter zu, erklärt ihr liebevoll, was für heute Nachmittag ansteht. „Wir werden jetzt mit der S 7 weiterfahren, bis wir zum Marienplatz kommen. Dort steigen wir aus und gehen zu deinem Termin. Wenn deine halbe Stunde dort vorüber ist, hole ich dich wieder ab, und dann haben wir noch Zeit, um gemeinsam etwas Schönes zu machen.“ „Oh, darauf freue ich mich! Und auf die Zeit mir dir auch, Mama!“ Die Freude kommt von Herzen und springt auf mich über.
Doch das Gespräch geht weiter. Die Mutter erklärt: „Weißt du, wenn wir jetzt am Marienplatz aussteigen, werde da ganz viele Leute sein. Es kann passieren, dass wir uns verlieren. Aber du weißt: Davor brauchst du keine Angst zu haben. Hier ist das Armband für dich, darauf steht meine Telefonnummer. Wenn du also verloren gehst, dann gehst du einfach zu einem Polizisten oder einer Polizistin und sagst ihnen, dass sie mich anrufen sollen!“
Liebevoll legt die Mutter ihrer Tochter das Armband ums Handgelenk. Das Mädchen wiederholt mit dem Blick auf ihr Armband, was ihr die Mutter gerade erklärt hat. Fast in Gedanken sagt sie „Wenn ich verloren gehe, brauche ich keine Angst zu haben!“ Ich bin ganz gerührt von der Szene. Dann wendet sich das Kind der Mutter zu und fragt: „Mama, bist Du schon mal verloren gegangen?“ – Wow, was für eine Frage. Jetzt bin ich gespannt. Was wird die Mutter antworten? Welche Geschichte ihrer Kindheit wird sie erzählen? Doch es bleibt still. In mir entsteht der Eindruck, dass diese Frage nicht nur bei mir, sondern auch bei der Mutter eine tiefere Ebene erwischt hat.
Gott ist meine Notfallnummer
„Bist du schon mal verloren gegangen?“ Jetzt versinke ich mich in meinen Gedanken: Der Trubel des Alltags, die vielen Anforderungen von außen, die eigenen Ansprüche, die Menschen, die etwas von mir wollen oder brauchen - da kann man schon mal verloren gehen!
Aber viel entscheidender ist doch die Frage, was ich tue, wenn ich verloren gehe. Und ich stelle mir vor, wie Gott mir ein imaginäres Armband ums Handgelenk legt. Was steht da wohl drauf? Vielleicht mein Taufdatum, das mich an den Moment erinnert, an dem Gott mir zugesagt hat, dass er für mich da sein will. Oder ein anderer Tag in meinem Leben, an dem ich seine Nähe besonders erfahren durfte. Oder vielleicht schreibt Gott mir einfach aufs Armband: „Mensch, ich liebe dich!“ – die wohl schönste Notfallnummer.