Edith Stein – nach Wahrheit gesucht und Gott gefunden
Edith Stein als Namenspatronin unserer Pfarrei
Heilige sind längst nicht nur Menschen aus uralten Zeiten – es gibt sie auch aus dem letzten, dem 20. Jahrhundert. Eine solche moderne Heilige ist Edith Stein. In Hessen sind Schulen und Straßen nach ihr benannt. Und bald wird auch die Pfarrei, in der ich Pfarrer bin, nach ihr heißen. Wir sind im Bistum Mainz ja in einem Veränderungsprozess, in dem aus mehreren Gemeinden größere Pfarreien entstehen, die dann auch neue Namen bekommen.
Auch in unserem Pastoralraum Dreieich-Isenburg, südlich von Frankfurt, wird es bald eine neue große Pfarrei geben. Damit sich alle mit der neuen Pfarrei identifizieren können, wurde der Pfarreiname in einem geistig-spirituellen Prozess gemeinsam mit Hauptamtlichen und Gemeindemitgliedern gesucht: Seit Mai steht der neue Name fest: „Pfarrei Heilige Edith Stein.“
Wir haben uns für Edith Stein als Namenspatronin entschieden, weil ihr Leben für Mut, Glauben und Standhaftigkeit steht – auch angesichts großer Rückschläge. Vieles wurde ihr verwehrt, etwa die Habilitation, weil sie eine Frau war, und am Ende sogar das Recht auf Leben durch die Nationalsozialisten.
Edith Stein ist eine Heilige der Neuzeit, die uns zeigen kann: Gib nicht auf, finde deinen eigenen Weg und bleib dir treu – trotz aller Widerstände. Genau dieses Vorbild soll unsere neue Pfarrei prägen. Und ich finde: Diese Edith Stein kann Menschen weit darüber hinaus inspirieren. Deshalb möchte ich heute in der hr2 Morgenfeier von dieser Heiligen Edith Stein erzählen, von ihrem Leben, von ihren Überzeugungen.
Musik 1: Rezitativ: Wer könnte mit empfänglichem Geist, aus: Jutta Bitsch, Edith-Stein-Oratorium.
Edith Stein, die Suchende
Edith Stein hat in ihrem Leben drei Vornamen getragen – jeder von ihnen steht für einen wichtigen Abschnitt in ihrem Leben: Edith, Teresa Hedwig und Theresia Benedicta a Cruce.
Geboren wurde sie am 12. Oktober 1891 in Breslau (heute Wrocław in Polen) als Edith Stein. Sie war das elfte und jüngste Kind einer jüdischen Familie, die ihren Glauben tief und ernsthaft lebte. Aber als Edith Stein 14 Jahre alt war, kam es zu einem tiefgreifenden Wandel: Sie verlor ihren Kinderglauben, hörte auf zu beten und nannte sich selbst eine Atheistin. Sie war nun auf der Suche – nach Erkenntnis, nach Orientierung, vor allem nach einer Antwort auf die große Frage: „Was ist Wahrheit?“
Philosophin und Schülerin Husserls
Nach dem Abitur begann sie in Breslau ein Studium der Germanistik, Geschichte und Psychologie. Bald wurde sie auf die Philosophie Edmund Husserls aufmerksam, der zu den bedeutendsten Denkern seiner Zeit gehörte. Um bei ihm zu lernen, wechselte sie an die Universität Göttingen. Dort vertiefte sie sich in die von Husserl entwickelte „Phänomenologie“ – eine Denkweise, die das bewusste Erleben in den Mittelpunkt stellt. Sie wurde eine seiner besten Schülerinnen, promovierte später bei ihm und arbeitete anschließend als seine Assistentin an der Universität Freiburg. Eine weitere Universitätskarriere und Professur blieb ihr verwehrt: weil sie eine Frau war – und auch: weil sie Jüdin war.
In all ihrem wissenschaftlichen Arbeiten ließ sie die Frage nach der Wahrheit nicht los. In Göttingen begegnete sie immer wieder Christinnen und Christen, deren Glaube sie beeindruckte – auch wenn sie sich selbst weiterhin als Atheistin verstand. Trotzdem war sie offen, innerlich aufnahmebereit – man könnte sagen: Der Boden für einen neuen Glauben war schon bereitet.
Die Kraft des Kreuzes: Ein prägendes Erlebnis
Ein besonders prägendes Erlebnis hatte sie im Jahr 1917. Sie besucht eine Freundin, deren Ehemann im Krieg gefallen war. Anstatt eine gebrochene und verzweifelte Witwe anzutreffen, begegnet sie einer Frau, die aus ihrem Glauben an Christus Trost und Kraft schöpft. Dieses Erlebnis berührt Edith Stein tief – es ist ihre erste echte Begegnung mit dem Kreuz Christi, wie sie später schreibt. In diesem Moment sei ihr das Geheimnis des Kreuzes aufgegangen und sie habe darin eine göttliche Kraft erkannt.
Die Faszination von Theresia von Avila
Ein anderes Mal besucht sie eine Freundin, die zum Protestantismus übergetreten war. Dort darf sie sich aus dem Bücherschrank ein Buch aussuchen: die Biographie der Mystikerin und Heiligen Theresa von Avila. In der Nacht liest sie das Buch voller Faszination und tiefer Ergriffenheit. In den nächsten Tagen kauft sie sich einen Katechismus und besucht katholische Gottesdienste.
Teresa Hedwig: Der Weg zum katholischen Glauben
Sie fühlt sich innerlich neu wach und entscheidet sich schließlich, zum katholischen Glauben überzutreten. Die Lektüre dieser Heiligenbiographie ist ein Schlüsselerlebnis für sie: Hier erkennt sie: Die Wahrheit, nach der sie so lange gesucht hat, ist nicht nur ein abstraktes philosophisches Konzept, sondern eine Person – Gott selbst. Edith Stein hat die Wahrheit gesucht und Gott gefunden.
Und sie findet diesen Gott neu – im katholischen Glauben. Dieser Weg war nicht selbstverständlich und nicht einfach. Aber er war für sie echt. In einem ihrer Briefe bringt sie das auf eindrückliche Weise zum Ausdruck: Da schreibt Edith Stein:
„Es hat mir immer sehr fern gelegen, zu denken, dass Gottes Barmherzigkeit sich an die Grenzen der sichtbaren Kirche binde. Gott ist die Wahrheit. Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht.“ (Auf einem steilen Pfad IX, 102) Für Edith Stein war klar: Jeder Mensch, der ehrlich nach Wahrheit sucht, ist bereits auf dem Weg zu Gott – ob er das weiß oder nicht.
Schließlich bittet Edith Stein um die Taufe, die sie am 1. Januar 1922 empfängt. Von da an trägt sie den Namen Teresa Hedwig – der zweite große Abschnitt ihres Lebens hatte begonnen, ausgelöst durch Menschen, die ihren Glauben im Alltag lebten und Zeugnis von Gott gaben.
Musik 2: Du senkst voll Liebe deinen Blick in meinen, aus: Jutta Bitsch, Edith-Stein-Oratorium.
Edith Stein – Ein Leben zwischen Judentum und Christentum
In Bad Bergzabern wurde Edith Stein auf den Namen Teresa Hedwig getauft. Ihre Konversion zum Katholizismus sieht sie jedoch nie als einen Bruch mit dem Judentum. Auch nach der Taufe begleitet sie ihre Mutter in die Synagoge und fühlt sich als Teil des jüdischen Volkes. Sie schreibt sogar: Erst als gläubige Christin lernt sie die ganze Tiefe und Schönheit des jüdischen Glaubens wirklich schätzen. Für Edith Stein bilden Judentum und Christentum eine Schicksalsgemeinschaft – zwei Glaubenswege, die sich ergänzen und auf besondere Weise zusammengehören.
Für mich steckt darin die Mahnung: Als Christ darf ich nie vergessen, auf welchem Fundament mein Glaube gewachsen ist. Die heilige Theresia Benedicta vom Kreuz, wie Edith Stein später hieß, verkörpert diese tiefe Verbundenheit zwischen Juden und Christen auf außergewöhnliche Weise. Und diese Verbundenheit führt auch zur Haltung Antisemitismus ist unvereinbar mit dem christlichen Glauben.
Wachsende Bedrohung und Entscheidung für das Kloster
Doch die politische Lage verschärft sich dramatisch: Die Nationalsozialisten kommen 1933 an die Macht und Edith Stein erkannt als Jüdin sehr früh die drohende Gefahr. Bereits im Januar 1933 schreibt sie: „Jetzt ging mir ein Licht auf, dass Gott wieder einmal schwer seine Hand auf sein Volk gelegt habe und dass das Schicksal dieses Volkes auch das meine wäre.“ (Edith Stein Gesamtausgabe, Herder, Freiburg ab 2001. Bd. 1, S. 346)
Im Sommer desselben Jahres bittet sie schließlich um die Aufnahme in den Kölner Karmel, ein Kloster des Ordens der Unbeschuhten Karmelitinnen. Ihr Eintritt wird auf den 15. Oktober 1933 gelegt – den Gedenktag der heiligen Theresia von Ávila. Mit 42 Jahren beginnt für Edith Stein damit der dritte große Abschnitt ihres Lebens unter dem Ordensnamen Teresia Benedicta a Cruce („die vom Kreuz Gesegnete“).
Gelebtes Vertrauen trotz aller Brüche
Der neue Ordensname ist dabei sinnbildlich für ihr Leben: Edith Stein trug in vieler Hinsicht ein Kreuz. Viele ihrer Lebenspläne und -träume wurden „durchkreuzt“, aber sie durfte erfahren, dass ein Leben in enger Verbindung mit Gott trotzdem ein erfülltes Leben ist – unabhängig von äußeren Umständen. Ihr tiefes Gottvertrauen kommt besonders in ihrem bekannten Gebet zum Ausdruck, das auch mir heute Kraft und Mut gibt:
„Ohne Vorbehalt und ohne Sorgen leg ich diesen Tag in deine Hand.
Sei mein Heute, sei mein gläubig Morgen, sei mein Gestern, das ich überwand.
Frag mich nicht nach meinen Sehnsuchtswegen, bin aus deinem Mosaik ein Stein.
Wirst mich an die rechte Stelle legen, deinen Händen bette ich mich ein.“
Diese Worte zeigen ihre Hingabe und ihr stilles Vertrauen darauf, dass ihr Leben Teil eines größeren Plans Gottes ist – selbst dann, wenn sie ihn nicht vollständig versteht. Eine genaue Datierung dieses Textes ist nicht bekannt. Aber die Tiefe der Worte lässt spüren, sie müssen aus einer Zeit kommen, in der Edith Stein sich ganz
in Gottes Hände legt– vielleicht aus der Zeit ihrer Bekehrung oder aus ihren letzten Lebensjahre.
1995 wurde als Auftragswerk ein Edith-Stein Oratorium von Jutta Bitsch komponiert. Zwei Gesänge daraus fanden ihren Platz im Mainzer Teil des katholischen Gesangbuchs „Gotteslob“ Den Abschluss dieses Oratoriums bildet das Abendlied „Ohne Vorbehalt und ohne Sorgen“ (GL 710,2). Es lädt auch mich heute ein, meine eigenen Sorgen loszulassen und mein Leben in Gottes liebevolle Hände zu legen – in der Zuversicht, dass er mich und uns alle an die rechte Stelle fügt.
Musik 3: Ohne Vorbehalt und ohne Sorgen, , aus: Jutta Bitsch, Edith-Stein-Oratorium.
Edith Stein lebte nun im Karmel-Kloster in Köln - aber die Welt draußen drehte sich weiter und wurde immer bedrohlicher. Die Judenverfolgung durch das Naziregime wurde immer brutaler. Die Klostergemeinschaft beschließt, Schwester Theresia Benedicta mit ihrer leiblichen Schwester Rosa, die ebenfalls in den Karmel eingetreten war, in ein Filialkloster nach Holland nach Echt zu bringen, aber auch dort sind sie nicht sicher. Im August 1942 wurden die beiden Schwestern festgenommen und nach Auschwitz gebracht.
Unvergesslich bleiben die Worte, die Edith Stein zu ihrer leiblichen Schwester gesagt haben soll: „Komm, gehen wir für unser Volk“ (laut Aussage der Augenzeugin und Nachbarin des Echter Karmels Marike Delsing, die die Geschwister Stein zum Polizeiauto begleitete; Andreas Müller, Amata Neyer: Edith Stein. S. 279, Anm. 26).
Dieser Gedanke, der uns heute eher fremd geworden ist, heißt Stellvertretung.
Die Spiritualität der Stellvertretung ist auch ein Gedanke des Karmeliterordens, den die heilige Theresia Benedicta vom Kreuz bewusst leben wollte. Auch und gerade als Karmelitin war es für sie selbstverständlich, solidarisch mit der verfolgten jüdischen Gemeinschaft zu sein. Sie erlebt diese Mystik der Stellvertretung in der Meditation über die Todesangst Christi am Ölberg und wird durch ihren gewaltsamen Tod schließlich selbst Teil dieses Martyriums des jüdischen Volkes.
Musik 4: Zwischenspiel, aus: Jutta Bitsch, Edith-Stein-Oratorium.
Edith Stein wurde – als erste Katholikin jüdischer Herkunft am 11. Oktober 1998 heiliggesprochen. Ihr Leben ist ein Zeichen der Versöhnung und der Kraft des Dialogs zwischen Kulturen und Religionen.
80 Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, 80 Jahre seit der Befreiung von der Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft: Das haben wir in diesem Jahr begangen und dabei das „Nie wieder“ intensiv betont. Und trotzdem wachsen Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit in unserem Land. Als Patronin Europas ruft Theresia Benedicta vom Kreuz heute dazu auf, Hass und Intoleranz durch die Liebe zu besiegen, die Jesus am Kreuz den Menschen erwiesen hat. Als Patronin Europas steht sie für eine Einheit, die auf Menschenwürde und Gerechtigkeit gründet. Ihr Gedenktag ist am 9. August, an dem Tag, als sie in den Gaskammern von Auschwitz starb.
Straßen und Schulen sind nach ihr benannt, auch bei uns in Hessen – und bald auch unsere Pfarrei in Dreieich-Isenburg
Was mich an Edith Stein besonders beeindruckt, ist ihre Standhaftigkeit. Sie war eine sehr kluge Frau, promovierte Philosophin, aber sie durfte nicht habilitieren, weil sie eine Frau war. Gleich viermal wurde ihr die Zulassung verweigert. Trotzdem hat sie nicht aufgegeben: Sie hat weiter geforscht, geschrieben und gelehrt. Dabei hat sie tief über die Fragen des Glaubens und das Wesen des Menschen nachgedacht.
Sie lehnt das traditionelle Rollenmodell zwischen Mann und Frau entschieden ab. Sie tritt für das Wahlrecht von Frauen ein, engagiert sich für die gesellschaftliche Gleichberechtigung. Auch als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen und sie als Jüdin und Katholikin doppelt bedroht und ausgegrenzt wurde, zog sie sich nicht zurück. Sie schwieg nicht, sondern blieb öffentlich aktiv. Ihr Mut war Ausdruck ihrer inneren Freiheit und ihres großen Vertrauens in Gott.
Ein Vorbild für unsere Zeit – eine Brückenbauerin
Auch heute erlebe ich viel Unsicherheit und Wandel. Die Gesellschaft ist oft gespalten, Herausforderungen wie Klimakrise, Kriege oder Fragen des Zusammenlebens beschäftigen uns. Menschen wie Edith Stein können mir dabei Orientierung geben. Sie zeigt mir: Selbst in schwierigen Zeiten kann ich mit innerer Ruhe, Klarheit und Vertrauen leben.
Sie hat Brücken gebaut: zwischen Glauben und Denken, zwischen Christentum und Judentum, zwischen Mensch und Mensch. Sie war mutig, ausdauernd und voller Hingabe an Gott. So möchte auch ich leben – engagiert für das Gute, offen für andere und getragen von Gottvertrauen.
Musik 5: Abschluss: Kreuz und Nacht sind der Weg zum himmlischen Licht, aus: Jutta Bitsch, Edith-Stein-Oratorium.
Musik: Jutta Bitsch, Edith-Stein-Oratorium
Annette Bialonski, Mezzosopran
Chorgemeinschaft St. Ludgeri und Heilig Kreuz
Bläserkreis St. Ludgeri,
Instrumentalisten: Christine, Rudolf und Nikola Holzbach, Violine
Olga Wagner, Viola
Demet Batarya, Violoncello
Milivoj Plavsic, Kontrabaß
Dr. Magdalene Saal, Orgel
Leitung: Jutta Bitsch
Konzertmitschnitt aus der Kirche der Edith-Stein-Gemeinde, Münster
(Musikauswahl: Regionalkantorin Regina Engel, Neu-Isenburg)