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Menschlichkeit sammeln
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Menschlichkeit sammeln

Ein Beitrag von Mirjam Jekel, Evangelische Theologin, Rüsselsheim
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Ein Mann steht an der Kasse und kann seinen Einkauf nicht bezahlen. Es geht nur um ein paar Artikel, Linsen, Reis, eine Paprika. Aber seine Bankkarte ist nicht genügend gedeckt. Der Mann ist erschrocken. Womöglich fürchtet er, wie er die Woche überstehen soll, wenn er jetzt nichts zu essen kaufen kann. Bevor er noch die Lebensmittel wieder zurücklegen kann, beugt sich die Frau hinter ihm vor und sagt zur Kassiererin: Ich übernehme das, und zahlt seinen Einkauf.

"Wholesome stories"

Solche Begegnungen sammeln manche Menschen im Internet. Dort werden sie verbreitet unter dem englischen Begriff „Wholesome stories“. Also Geschichten, die gut, wohltuend und heilsam sind. Ich würde dazu sagen: Geschichten der Nächstenliebe. In den Kommentaren lese ich: Diese Geschichte hat mich daran erinnert, dass es noch Gutes gibt auf der Welt. Oder sogar: Diese Geschichte hat meinen Glauben an die Menschheit gerettet.

Es braucht die positiven Geschichten im Leben

Das zeigt mir, wie wichtig es ist, solche positiven Erlebnisse zu sammeln und zu teilen. Denn man hört so viel Schlechtes über Menschen: In Filmen und Bücher werden Menschen als gierig und egoistisch dargestellt, nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Und auch in alltäglichen Gesprächen höre ich oft von unerfreulichen Begegnungen. Der Vermieter, der seiner Mieterin das Leben schwer macht. Der Vereinsvorsitzende, der sich selbst bereichert. Da kann es leicht geschehen, dass man den Glauben an die Menschheit verliert. Deshalb brauche ich Geschichten von Nächstenliebe.

Momente der Mitmenschlichkeit

Seitdem ich das bemerkt habe, achte ich in meinem Leben auf Momente der Mitmenschlichkeit. Wie bei der muslimischen Familie, die ich kennenlerne. Sie kümmern sich rührend um ihren christlichen Nachbarn. Dieser Herr ist schon alt und lebt allein, Familie und Freunde hat er nicht mehr. Da hat ihn seine Nachbarsfamilie kurzerhand adoptiert. Dass sie unterschiedlichen Religionen angehören, spielt keine Rolle – sie sind einfach füreinander da.

Auch ich selbst erlebe Nächstenliebe, wie gerade, als ich mit dem Fahrrad ausgerutscht und gestürzt bin. Sofort waren Menschen da, die mir halfen. Sie stellten sicher, dass ich mir nichts getan hatte, und sammelten die verstreuten Einkäufe wieder ein.

Zum Menschsein gehört Kälte und Indifferenz aber auch Resonanz und das Heilige

Der Soziologe Hartmut Rosa sagt: Zum Menschsein gehört Kälte und Indifferenz. Aber auch Resonanz und das Heilige. Zwischen diesen Polen leben wir.[1] Nach meinem Verständnis drückt sich Resonanz, in der Aufmerksamkeit für andere aus. Überall, wo Menschen aufeinander achten und bemerken, was jemand anders braucht, ist Resonanz. Und wenn jemand dann hilfsbereit reagiert – sich Mühe macht, um dem anderen zu helfen – darin blitzt etwas Heiliges auf.

Ob christlich oder nicht, solche Momente der Nächstenliebe gibt es überall. Das zeigt mir, wie viel Gutes in den Menschen steckt. Das macht mich glücklich. Und es ermutigt mich, selbst hilfreich zu sein.


[1] Der Soziologe Hartmut Rosa. Logos – Glauben und Zweifeln. Gestaltung von Johannes Kaup, Ö1, oe1.orf.at/player/20230218/709212.

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