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Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist
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Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Wunder geschehen auch heute. Wolfgang Hornas Geschichte etwa ist eine Wundergeschichte. Am Abend vor der Flutkatastrophe an der Ahr im letzten Jahr legt er seinen Ehering wie immer auf den Schreibtisch im Wohnzimmer. Wenige Stunden später kommt die Flut. Wolfgang Horna, seine Frau und seine Mutter können sich in den 1.Stock retten und werden von dort evakuiert.

Das Wunder des wiedergefundenen Eherings

Zwei Tage später betritt Wolfgang sein Haus wieder: der Schreibtisch ist zerborsten, alles ist verschlammt, der Ehering ist natürlich weg. Es folgen anstrengende Tage: Leben im Schlamm, ständig aufräumen und putzen. Fünf Tage nach der Flut sieht Wolfgang auf dem Bürgersteig gegenüber mitten im Schlamm etwas glitzern. Er bückt sich und hebt einen Ring auf, seinen Ehering. Es gibt keinen Zweifel. Innen ist der Name seiner Frau eingraviert: Simone. Er holt seine Frau. Sie steckt ihm den Ring noch einmal an, wie damals in der Kirche, vor etwa 20 Jahren.

Ein Zeichen der Hoffnung

Das Regionalprogramm hat den Mann mit seiner Geschichte gefilmt. Mit tränenerstickter Stimme sagt er, der Ring sei für ihn ein Zeichen der Hoffnung: „Wir enden nicht im Schlamm. Wir stehen wieder auf.“ Und: „Ich danke dem Herrn, dass ich so eine Frau gefunden habe.“

Die Bibel steckt voller Wundergeschichten

Die Geschichte vom Ehering ist eine Wundergeschichte. Die Bibel steckt auch voller Wunder. Das Meer teilt sich für die Sklaven, die aus Ägypten fliehen. Jesus geht über das Wasser und heilt Menschen.

Heute lassen sich die meisten Wunder wissenschaftlich erklären

An Wunder zu glauben, das fällt heute aber nicht mehr so leicht. Vieles, was früher als Wunder galt, kann heute naturwissenschaftlich genau erklärt werden. Die beiden Schwestern und Pfarrerstöchter, die Theologin Johanna Haberer und die Journalistin Susanne Rückert1, sagen: „Seit die biblischen Wunder vom aufgeklärten Denken belächelt werden, schämt sich die christliche Theologie ihrer überirdischen Erzählungen ein bisschen. Das ist schade.“ Die beiden attestieren den Wundererzählungen der Bibel ein besonderes Gespür für das Außergewöhnliche und den Mut, nichts als gegeben hinzunehmen.

Kranke zum Beispiel wurden zu Zeiten Jesu ausgegrenzt und als ansteckend außerhalb der Dörfer und Städte untergebracht. Jesus berührt sie und holt sie damit in die Gemeinschaft zurück.

Wunderbringer gibt es auch heute

Immer wieder gibt es solche Wunderbringer: den Friedenswanderer Gandhi zum Beispiel oder die Afroamerikanerin Rosa Parks, die sich 1955 weigerte, für einen weißen Fahrgast im Bus ihren Platz zu räumen.

Ich glaube: Wir brauchen solche Menschen, die sich nicht nur in gängigen Denkmustern bewegen, sich nicht nur am Machbaren orientieren. Und wir selbst brauchen offene Augen und Herzen, um Wunder heutzutage zu entdecken.

Moderne Wundergeschichten

In einem Magazin2 haben Journalistinnen und Journalisten viele Wundergeschichten von heute gesammelt: Wie ein Förster die Suche nach einem vermissten Mädchen nicht aufgibt und mit anderen zusammen auch nach 3 Tagen weitersucht und die achtjährige Julia doch noch findet. Oder wie ein orthodoxer Rabbi im letzten Moment afghanische Frauen-Fußballerinnen aus Kabul rettet, bevor die Taliban einmarschieren. Oder die Wundergeschichte vom Ehering. Und viele mehr.

Ich gebe dem Physiker Niels Bohr recht. Er sagt: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“


https://www.zeit.de/serie/unter-pfarrerstoechtern

2  Zeit-Magazin Nr. 53 vom 22.12.2021

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