Auf den zweiten Blick
Es ist noch dunkel draußen. Schauen Sie mal aus dem Fenster.
Mit etwas Glück können Sie ihn sehen.
Seit heute früh um 6.17 Uhr scheint er in voller Pracht.
Der Mond. Der erste Vollmond in diesem Jahr.
Im Volksmund heißt er „Eismond“. Wahrscheinlich, weil im Januar die kältesten Tage des Jahres sind.
Bekannt ist auch der „Erdbeermond“ im Juni.
Und vor einem halben Jahr konnten wir hier in Deutschland den „Blutmond“ bestaunen. Rot und golden stand er vor unseren Augen – und viele können sich noch heute daran erinnern, wo sie ihn gesehen haben.
Seit Generationen übt der Mond eine magische Anziehungskraft auf uns aus.
Er beeinflusst Ebbe und Flut. Und dem einen oder der anderen beschert der Vollmond eine eher unruhige und traumreiche Nacht.
Das ist heute nicht anders als vor 200 Jahren.
Damals hat Matthias Claudius ein wunderschönes Lied über den Mond komponiert. „Der Mond ist aufgegangen.“
Es gehört zu den bekanntesten deutschen Volksliedern und wird Abend für Abend an unzähligen Kinderbetten gesungen.
Sicherlich habe ich als Kind vom Text nur weniger als die Hälfte verstanden.
Aber die Melodie: die hat sich mir fest eingeprägt.
Wenn ich heute das Lied singe, bleibe ich mit meinen Gedanken meist bei der 3. Strophe hängen:
Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehn.
Es ist der zweite Blick, der mich an dieser Strophe fasziniert.
Die Zeilen von Matthias Claudius erinnern mich dran:
Du siehst immer nur einen Teil der Wirklichkeit. Wenn Du noch einmal genauer hinschaust: Was siehst du dann?
Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehn.
Beim Halbmond sehe ich tatsächlich nur die Hälfte des Mondes, aber wenn ich genau hinsehe, dann kann ich auch den Schatten erkennen, der den Rest des Mondes verdeckt.
Und auch heute beim Vollmond sehe ich zuerst nur einen gleichförmigen weißen Ball. Auf den zweiten Blick kann ich die Schattierungen entdecken, dunkle Flecken und hellere Stellen.
Ob Vollmond oder Halbmond, Eismond oder Blutmond:
Der Mond versetzt mich nicht nur in Staunen über die Natur und ihren Wandel.
Das alte Volkslied im Ohr werde ich daran erinnert, dass wir nicht alles auf den ersten Blick erfassen können.
Heute, am 203. Todestag von Matthias Claudius, will ich diesen zweiten Blick wagen: auf das, was mich umgibt. Mit dem zweiten Blick will ich meinen Mitmenschen begegnen. Ich will sie nicht festlegen auf das, was ich zuerst sehe. Sie nicht belächeln. Sondern tiefer blicken.