Lug und Lüge
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Lug und Lüge

Dr. Joachim Schmidt
Ein Beitrag von Dr. Joachim Schmidt, Evangelischer Pfarrer, Darmstadt

Lüge heißt auf Mittelhochdeutsch Lug. Das ist, so will es unsere alte Sprache, nicht nur einfach die Unwahrheit. Es ist zugleich der Platz zum Ausschauen, zum Spähen und zum Planen. In Freiburg, eine Urlaubs-Erinnerung, gibt es noch den Lug-ins-Land. Der Lug, der Ausguck. Von dort aus konnte man rechtzeitig Bedrohungen erkennen und Alarm schlagen. Das war in früheren Zeiten für Städte und Landstriche lebenswichtig. Lügen, Spähen und Abwehrmaßnahmen gehören offenbar bis heute zusammen.

Wer lügt, will die Wahrheit und die Wirklichkeit zum eigenen Nutzen beeinflussen. Wer lügt, will Gefahren von sich abwenden. Die Verhaltensforscher lehren uns, dass der menschliche Überlebenskampf seit jeher aus Lug und Trug, aus Verstellen und Verladen, aus Tricksen und Täuschen besteht. Nur wer beweglich ist, scheint überlebensfähig.

Deshalb gibt es niemanden, der noch nie gelogen hat. Nicht nur die Zeitung mit den riesengroßen Überschriften lebt ganz gut von dieser Tatsache. Und wenn es einmal wieder einen oder eine mit so ganz besonders weißer Weste erwischt hat, dann ist die Schadenfreude allgemein groß.

Aber zugleich haben die Menschen doch schon immer nach Wahrheit gesucht, nach einer verlässlichen Wirklichkeit, die gilt und die Bestand hat. Ist es eigentlich ein Lebensgesetz, dass die Wahrheit so wenige Chancen hat? Ich halte das für eine Ausrede, allerdings für eine weit verbreitete. Sie wird nicht besser durch religiöse Garnierung, mit der man behauptet, die Welt sei nun einmal böse und Wahrheit allenfalls im Himmel zu finden. Weshalb man sich auf der Erde auch nicht weiter um sie bemühen müsse.

Der Apostel Paulus in der Bibel hat das seinerzeit sehr viel nüchterner gesehen, als er den Christen in Ephesus einfach schrieb: „Legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten.“ (Epheser 4,25)

Die Lüge im Umgang mit den nächsten Menschen im Alltag wäre abzulegen wie ein unbrauchbar gewordenes Kleidungsstück? Ausziehen und fort damit? Im Zusammenhang wird deutlich, dass es nicht nur um die Lüge als üble Angewohnheit geht, sondern um das, was Paulus den „alten Menschen“ nennt.

Dieser alte Mensch kann tatsächlich „in Geist und Sinn“ erneuert werden, wenn er begreift, dass die Liebe Gottes ihm unmittelbar gilt. Dann kann ein „neuer Mensch“ entstehen, der anders und freier zu leben vermag als unter dem Gefühl ständiger Bedrohung.

Lug und Trug sind, so gesehen, in Wahrheit Kennzeichen eines gestrigen, geduckten und kleinräumigen Lebens von gestern. Zukunftsweisende Perspektiven bieten sie nicht. Die Bemühung um Wahrheit ist aber nicht nur eine vage, auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu projizierende Hoffnung. Sie braucht harte Arbeit, aber wenn ich merke: Ich muss nicht lügen, denn ich stehe unter einem höheren Schutz, als ich ihn mir selber zusammendichten könnte, dann befreit mich das. Das ist seit zweitausend Jahren die Erfahrung der Christen.
 

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