Kinder darf man sehen, aber nicht hören
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Kinder darf man sehen, aber nicht hören

Dr. Anke Spory
Ein Beitrag von Dr. Anke Spory, Evangelische Pfarrerin, Bad Homburg-Gonzenheim

„Kinder darf man sehen, aber nicht hören. Diesen Satz haben meine Eltern immer gesagt“, erzählt mir Anna, „das hat mich geprägt.“ Ich bin erstaunt. Anna ist schon über siebzig Jahre alt. Sie hat drei Kinder großgezogen und mittlerweile hat sie viele Enkel. Anna ist das, was man eine selbstständige, eine gestandene Frau nennt. Sie kann vor vielen Menschen sprechen und auch in politischen Dingen sagt sie, was sie denkt.

Aber noch als sie schon längst verheiratet war hat sie ihren Mann für sie sprechen lassen. Die Vorstellung, alleine ein Gespräch zu führen war für sie entsetzlich. „Was habe ich schon zu sagen?“, hat sie sich gefragt. Aus dem kleinen Mädchen war längst eine Frau geworden. Aber gehört hat man sie immer noch nicht.

„Kinder darf man sehen, aber nicht hören“. Dieser Satz gehört in das Repertoire eines vorgestrigen Erziehungsstils, der Kindern ihre eigene Stimme verweigert. Die Stimme von Kindern? Unwichtig. Belanglos. Allenfalls störend.

In einem Nebensatz erzählt der Evangelist Matthäus von einer Begegnung Jesu mit lärmenden Kindern, von Jungen und Mädchen. Jesus sieht im Tempel von Jerusalem die vielen Händler, die ihre Waren verkaufen. Tiere für die Opferungen, Händler, die dafür das nötige Kleingeld wechseln. Der Tempelbezirk gleicht einem umtriebigen Marktplatz, in der die Händler um die Aufmerksamkeit der Besucher buhlen. Jesus wird wütend, er wirft die Tische um. Und dann, so erzählt es Matthäus, kommen Kinder. Sie schreien: „Hosianna, dem Sohn Davids.“

„Ausgerechnet Kinder!“, entrüsten sich die Schriftgelehrten. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was in den Köpfen der Schriftgelehrten vorgeht: „Jetzt käme ein Machtwort von Jesus doch gerade Recht…. den Mund sollte man ihnen verbieten!“ Jesus begegnet den verärgerten Schriftgelehrten mit einem einzigen Satz. Er zitiert aus Psalm 8: „Aus dem Munde der Unmündigen und Kinder hast du dir Lob bereitet.“ Mir gefällt diese Szene, die so ganz nebenbei bei der Tempelreinigung erzählt wird. Sie erzählt von Kindern, deren Stimme gehört und ernstgenommen wird.

Der Satz „Kinder darf man sehen, aber nicht hören“ gehört heute nicht mehr zu den Erziehungsmethoden. Ein Glück. Die Geschichte von Jesus bleibt trotzdem aktuell. Denn starke Kinder, die ihre Stimme erheben und sagen, was sie denken, brauchen die Unterstützung von Erwachsenen. Dann machen sie die Erfahrung, die Anna erst als ältere Frau gemacht hat: Es ist wichtig, was sie zu sagen haben.

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