Ich bin es wert, beschenkt zu werden

Ich bin es wert, beschenkt zu werden

Doris Joachim
Ein Beitrag von Doris Joachim, Evangelische Pfarrerin, Referentin für Gottesdienst im Zentrum Verkündigung, Frankfurt

I

„Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann steht das Christkind vor der Tür. Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann hast du Weihnachten verpennt.“ Kess und fröhlich tragen die Kinder ihr Gedicht vor. Der Nikolaus ist da, alle Jahre wieder im Kindergottesdienst. Das Gedicht ist nicht gerade originell. Auch der Satz am Ende ist dem Nikolaus schon aus früheren Jahren bekannt. Aus Spaß droht er ein bisschen mit der Rute.

Die Kinder wissen, wer sich hinter dem Kostüm verbirgt. Die Mitarbeiterinnen leugnen natürlich und behaupten, dass dies ganz gewiss der echte Nikolaus sei. Es ist ein Spiel. Trotzdem ergreift die Kinder so etwas wie Respekt. Fast andächtig nehmen sie ihre kleinen Geschenke entgegen. Sie lassen sich von dem Nikolaus loben und ermahnen. Und dabei sehen sie ihn spitzbübisch und zugleich ehrfürchtig an.

Sieben bis elf Jahre alt sind sie, die Kinder. Und sie wissen Bescheid. Sie glauben nicht mehr an den Nikolaus oder an das Christkind. Und dennoch: Man kann es nur schwer in Worte fassen. Sie empfangen die kleinen Säckchen, die mit Weihnachtsplätzchen und Schokolade gefüllt sind, wie ein großes Geschenk. Wie etwas, das mehr ist als der Inhalt der Beutel. Nikolaus, der Freund der Kinder. Einer, der es gut mit ihnen meint. Er bringt ihnen auf geheimnisvolle Weise die Liebe Gottes mit.

Und er ist mächtig. Ein Beschützer der Kinder. Da stört die Rute allerdings. Auch das goldene Buch, in dem angeblich die guten und bösen Taten der Kinder aufgeschrieben sind. Dieser freche Satz „und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann hast du Weihnachten verpennt“ klingt in meinen Ohren wie ein kindlicher Widerstand gegen die strenge Seite des Nikolaus. Gut so, denke ich. Kinder sollen keine Angst haben, schon gar nicht vor dem Nikolaus. Aber woher kommen diese Bräuche mit Rute, goldenem Buch, Geschenke für die Kinder und vielem anderen? Und: Wer war dieser Nikolaus? Davon gleich mehr nach der Musik.

Musik

II

Über den historischen Nikolaus von Myra weiß man wenig. Das meiste sind Legenden. Vermutlich wurde er irgendwann um 270 nach Christus in einer kleinen Stadt an der lykischen Küste geboren, in der heutigen Türkei. Ein Kind reicher Eltern. Als Erwachsener ein Beschützer der Armen und Verfolgten. Er wurde schon in jungen Jahren Priester und dann Bischof von Myra, das ebenfalls an der lykischen Küste liegt. Es heißt: Er starb an einem 6. Dezember. Man ist sich nicht einig, in welchem Jahr das war. Als gesichert gilt, dass er eines natürlichen Todes starb.

Lykien gehörte zum damaligen Kleinasien. Und Kleinasien gehörte zum römischen Reich, einer multikulturellen Gesellschaft, in der man vieles durfte, nur nicht den Kaiserkult verweigern. Die Kaiser mussten als Götter verehrt werden. Das taten die Christen natürlich nicht. Darum lebten sie ständig in Angst vor Übergriffen und Verfolgungen.

Die letzte Christenverfolgung im Römischen Reich fand in den Jahren 303-311 statt. Nikolaus wird diese acht schlimmen Jahre miterlebt haben. Wie Christen ihrer Bürgerrechte beraubt wurden und verarmten. Wie ihre Häuser angezündet wurden, wie sie misshandelt oder sogar getötet wurden, weil sie angeblich nicht hineinpassten in die römische Kultur. Weil sie einen fremden Glauben hatten, von dem sich die Mehrheit bedroht fühlte. Da half es den Christen nicht zu sagen: „Wir sind doch eine Religion des Friedens.“ Fremdenfeindschaft macht taub für vernünftige Argumente. Es heißt, Nikolaus sei im Jahr 310 ebenfalls verhaftet und gefoltert worden. Das ist durchaus möglich, denn die Verfolger hatten es vor allem auf die Priester und Bischöfe abgesehen.

Vielleicht waren es diese Erfahrungen, die ihn sensibel gemacht haben für die Not der Menschen. Es gibt jedenfalls eine Menge Legenden, die erzählen, wie er Gefangene befreit, wie er eine Stadt vor dem Hungertod rettet, wie er entführte Kinder mit Hilfe des Kirchenschatzes von Piraten freikauft und wie er ermordete Schüler wieder zum Leben erweckt. Kein Wunder, dass er schon zu Beginn des 6. Jahrhunderts als Heiliger verehrt wurde. Als einer, der die Liebe Gottes mitbringt. Er wurde Schutzpatron der Armen und Verfolgten und vor allem: der Kinder. Denn die Kinder sind diejenigen, die am meisten leiden, wenn Armut und Gewalt regieren. So wie bei den drei jungen Mädchen, die Nikolaus vor der Prostitution bewahrte.

Die Legende erzählt von einem verarmten Adligen. Er weiß nicht, wie er überleben, geschweige denn seine drei Töchter standesgemäß verheiraten soll. Da fällt ihm nichts Besseres ein, als seine Töchter als Prostituierte zu verkaufen. Nikolaus hört das und ist empört. Heimlich wirft er in einer Nacht einen Goldklumpen durch das Fenster der ältesten Tochter. Die freut sich und der Vater auch. Denn nun kann er wenigstens die eine Tochter gut verheiraten. In den nächsten beiden Nächten folgen noch zwei weitere Goldklumpen, um auch die anderen beiden Töchter vor der Prostitution zu retten.

Nikolaus bringt heimlich in der Nacht Geschenke. Nicht Äpfel, Nuss und Mandelkern, sondern große Goldstücke, die Leben retten. Es ist diese Legende, die den Brauch des Schenkens am Nikolaustag begründet. Der dramatische Hintergrund ist inzwischen verblasst. Schade eigentlich. Denn die Geschichte zeigt nicht einen dicken rotgewandeten Weihnachtsmann mit Rauschebart, sondern einen Anwalt der Unschuldigen. Einen, der eingreift und Mädchen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung bewahrt. Das ist keine Selbstverständlichkeit in einer Welt, die Gewalt gewohnt ist und den Wert eines Mädchens niedrig ansetzt.

Die Töchter bekommen die Geschenke, weil ihr Vater Böses vorhatte. Bei unseren heutigen Nikolausfeiern werden die Kinder gefragt, ob sie denn brav waren. Eigentlich wäre es andersherum richtig, nämlich die Erwachsenen zu fragen: Wart ihr brav? Habt ihr eure Kinder geachtet und sie behütet? Habt ihr dafür gesorgt, dass sie in Liebe aufwachsen? Oder habt ihr sie geschlagen, misshandelt oder vernachlässigt? Gern würde ich mal die Rollen umkehren. Sicher hätte ich Nikolaus auf meiner Seite. Auf jeden Fall stünde ich in guter biblischer Tradition. In einem der wichtigsten Bibeltexte für die Adventszeit, im sogenannten Magnifikat, singt die junge Maria, die Mutter Jesu, von solcher Umkehr der Machtverhältnisse: „Gott stürzt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.“ (Lukas 1,52)

Musik

II

Es gibt im Zusammenhang mit Nikolaus einen fast vergessenen Brauch der umgekehrten Ordnung: Das Kinderbischofsspiel. Es entstand im frühen Mittelalter und wurde vor allem in Klosterschulen gespielt. Die Kinder wählen am Vorabend des Nikolaustags, also am 5. Dezember, einen Kinderbischof aus ihren Reihen. Er wird wie ein echter katholischer Bischof mit Mitra und Bischofsstab ausgestattet. Währenddessen feiern die Lehrer und geistlichen Herren einen Vespergottesdienst. Sie kommen aber nur bis zur Stelle aus dem Magnifikat, wo es heißt: „Gott stürzt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.“ Dann zieht der Kinderbischof mit den anderen Kindern ein und übernimmt die Leitung der Vesper. Einen Tag lang, mancherorts auch länger, darf der Kinderbischof den Erwachsenen predigen. Ein Schüler gibt den eigentlichen Bischöfen und Lehrern Anweisungen. Und: Er darf ihr Verhalten tadeln. Wunderbar! Nikolaus von Myra hätte seine Freude dran. In manchen Gegenden regierte der Kinderbischof bis zum 28. Dezember. Das ist der sogenannte Tag der unschuldigen Kinder. Dieser Tag ist dem Gedenken an den Kindermord von Bethlehem gewidmet.

Ein Spiel mit ernstem Hintergrund. Wie auch bei anderen Umkehrbräuchen – in der Karnevalszeit zum Beispiel – wird der Gesellschaft ein Spiegel vorgehalten. Da! Schaut genau hin. Und hört, was die Kinder zu sagen haben. Schaut, was ihnen fehlt. Achtet auf die Kleinen. Beschützt die Unschuldigen vor Gewalt. Lasst Kinder Liebe erfahren und Wärme. Bei euch zu Hause, in den Schulen, in den Flüchtlingsunterkünften, in den Kriegsgebieten. Es ist ein Skandal, dass bei uns so viele Kinder in Armut und Gewaltverhältnissen leben. Die alten Nikolausbräuche erinnern Erwachsene daran und fordern, etwas zu tun. Und sei es, Geld zu spenden, damit andere den Kindern helfen können.

Die mittelalterliche Kirche hat übrigens mehrmals das Kinderbischofsspiel verboten. Vergeblich. Die Kinder – und mit ihnen achtsame Lehrer und Geistliche – haben sich durchgesetzt. Im 16. Jahrhundert ging dann der Brauch verloren. Aber in den letzten Jahren lebt er interessanterweise besonders in einigen evangelischen Gemeinden in Norddeutschland wieder auf. Und da gibt’s dann natürlich auch Mädchen als Kinderbischöfinnen.

Musik

IV

Im 16. Jahrhundert verändern sich die Nikolausbräuche. Das liegt auch an der Reformation. Martin Luther hat ja die Verehrung von Heiligen abgelehnt. Ein Christ brauche keinen Mittler oder Fürsprecher bei Gott außer Christus allein. Damit verliert für ihn auch der Heilige Nikolaus an Bedeutung. Es ist nun nicht so einfach, einen Geschenkebringer und Schutzpatron der Kinder abzuschaffen. Darum kommt Luther auf die Idee, das Beschenken auf das Weihnachtsfest zu verlegen. Das setzt sich durch, mit der Zeit auch in der katholischen Kirche.

Dennoch wird Nikolaus weiterhin gefeiert und verehrt. Allerdings verschiebt sich seine Bedeutung. Wie es genau entstand, weiß man nicht, aber: Nikolaus wird strenger. Er kommt jetzt nicht mehr heimlich und bringt Geschenke. Er kommt als verkleideter Bischof und gebärdet sich als Pädagoge, leider oft als schlechter. Die Geschenke werden nun an Bedingungen geknüpft. Kinder müssen sie sich durch Wohlverhalten verdienen. Dazu braucht der Nikolaus seit dem 17. Jahrhundert Helfershelfer. Das sind finstere Gestalten, die ursprünglich eher zum Höllenpersonal zählten.

Sie haben je nach Region verschiedene Namen: Krampus, Knecht Ruprecht, schwarzer Piet und so weiter. Gemeinsam ist ihnen etwas, das dem ursprünglichen Nikolaus fremd ist. Sie sollen den Kindern Angst machen. Dieser neue Nikolaus befragt die Kinder. Oder er konfrontiert sie mit ihren vermeintlich guten und bösen Taten, die in einem Buch aufgeschrieben sind wie in Geheimdienstakten. Die guten Kinder werden belohnt, die bösen Kinder werden von Knecht Ruprecht oder dem Krampus mit der Rute bestraft oder auch mal in einen Sack gesteckt.

Dieses Prinzip wird auch dort beibehalten, wo Nikolaus ohne einen finsteren Beistand kommt. Dann nimmt er eben selbst die Rute in die Hand. In wie vielen Wohnzimmern, Schulklassen oder Kindergruppen hat es Tränen und Angst gegeben! Da muss eine Vierjährige mit schlotternden Knien dem Nikolaus ihren Schnuller übergeben und zukünftig auf diesen Trost verzichten. Da muss ein Achtjähriger versprechen, sich in der Schule mehr anzustrengen, wo es ihm doch so schwer fällt, dem Druck der Eltern zu entsprechen. Da muss ein Zehnjähriger ein ewig langes Gedicht über Knecht Ruprecht aufsagen, verheddert sich, wird gescholten, um dann von einem fremden verkleideten Mann zu hören, er solle doch immer schön brav sein, sein Zimmer aufräumen und seinen Eltern keine Widerworte geben.

Gott erhebt die Niedrigen? Hier ist wenig zu spüren von dem Schutzpatron, der den Kindern zeigt, wie sich die bedingungslose Liebe Gottes anfühlt. Und es hilft auch nicht, wenn der dargestellte Nikolaus einen lustigen roten Mantel mit Kapuze trägt und einen weißen Rauschebart hat. Es ist ja interessant, dass seit dem letzten Jahrhundert die Kommerzialisierung von Nikolaus, Advent und Weihnachten einhergeht mit solchen demütigenden Bräuchen, wo auch Kinder nichts mehr umsonst kriegen. Aber in keiner der Legenden über den Bischof von Myra hat Nikolaus zuerst gefragt: Habt ihr euer Geschenk, habt ihr eure Rettung auch wirklich verdient?

Musik

V

Evangelische Christen kennen keine Heiligen, die sie im Gebet anrufen und um Fürsprache bei Gott bitten. Aber sie kennen Vorbilder im Glauben. Nikolaus ist ein solches Vorbild. Einer, der eine Liebe mitbringt, die man sich nicht verdienen muss – die Liebe Gottes. Das ist sehr evangelisch. Heilig ist er, weil er gütig ist. So sollen wir auch sein.

In keiner der Legenden wird berichtet, dass Nikolaus seine Hilfe an irgendwelche Bedingungen knüpft. Er fragt nicht lange. Er tut einfach was. Er fragt nicht nach dem Glauben der Leute oder ob sie besonders anständig sind. Er fragt nicht, ob seine Güte vielleicht ausgenutzt wird oder ob sich seine Hilfe langfristig rechnet. Er sieht die Not und greift ein. So wird auch erzählt, wie er ein Schiff im Mittelmeer aus Seenot rettet. Er fragt nicht, ob es die Menschen überhaupt wert sind, gerettet zu werden. Er bewahrt sie einfach vor dem Untergang. Deswegen wurde Nikolaus auch Schutzpatron der Seeleute und Schiffbrüchigen. So soll es bei uns ebenso sein. Und so ist es manchmal auch bei uns.

Da können Kinder dieses fröhlich-freche Gedicht vor dem Nikolaus aufsagen: „Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann hast du Weihnachten verpennt.“ Zugleich bekommen sie in heiligem Ernst zu spüren: „Ich bin es wert, beschenkt zu werden, auch wenn ich nicht immer alles richtig mache. Und nicht nur ich bin es wert, sondern jedes Kind auf dieser Welt.“ Da gibt es Menschen, die zu Heiligen werden, ohne es zu merken. Sie schließen sich zusammen und retten Flüchtlinge in Seenot, ohne zu fragen, woher die kommen. Einfach, weil sie es wert sind, gerettet zu werden.

Da gehen Leute an die Bahnhöfe und in die Flüchtlingsunterkünfte und kümmern sich um Mädchen und Jungen, denen sich die Schrecken von Gewalt in die Seele gebrannt haben. Weil diese jungen Leute es wert sind, beschützt zu werden. Da gehen wache Leute auf die Straße mit Plakaten „Helfen statt hetzen“. Sie zeigen: Uns sind die Menschen heilig und mit ihnen Freiheit und Menschenwürde. Niemand darf sie antasten: Kein Krampus, kein Knecht Ruprecht und kein Pegida-Anhänger.

Solche Heilige werden Weihnachten nicht verpennen. Denn sie leben die Liebe Gottes, die an Weihnachten ein Kind wurde. Ich bin sicher: Bischof Nikolaus von Myra hätte seine Freude dran.

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