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Kriegskinder – und was der 2. Weltkrieg für die nachfolgenden Generationen bewirkt
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Kriegskinder – und was der 2. Weltkrieg für die nachfolgenden Generationen bewirkt

Doris Joachim
Ein Beitrag von Doris Joachim, Evangelische Pfarrerin, Referentin für Gottesdienst im Zentrum Verkündigung, Frankfurt

Was geben Eltern ihren Kindern eigentlich mit auf den Weg? Mich beschäftigt das seit längerem. Besonders, seit ich von den Kriegskindern gelesen habe. Also von denen, die zwischen 1930 und 1945 geboren wurden und den Krieg als Kinder erlitten haben. Die Generation meiner Mutter. Sie sind jetzt über 70 oder über 80 Jahre alt. Und ihre Kinder sind so zwischen 40 und 60. Man spricht bei den heute 40-60 Jährigen von den Kriegsenkeln (Sabine Bode: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen (3. Auflage 2013) sowie: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation (10. Auflage 2013).

Auch über diese, meine Generation gibt es inzwischen Bücher. Man untersucht, welche Folgen der Zweite Weltkrieg auf die nachfolgenden Generationen hat. Ich lese Geschichten über verzwickte Eltern-Kind-Beziehungen und merke: Das kenne ich. Oder: So ähnlich habe ich es auch erlebt. Denn da gibt es eine Gemeinsamkeit: Unsere Eltern haben als Kinder Schreckliches erlebt. Aber sie haben kaum darüber sprechen können. Jedenfalls nicht so, dass sie dadurch getröstet und gestärkt wurden. Wenn man nichts zu Essen hat und das Haus in Trümmern liegt, dann ist wenig Zeit für Gefühle.

Und dann gab es da noch die Schuld und die Scham: Schließlich haben die Deutschen diesen Krieg angefangen, sechs Millionen Juden ermordet und viel Leid über die Völker gebracht. Das Schicksal der deutschen Kriegskinder trat dagegen zurück. Das ist verständlich. Und doch ist es ein Problem. Oft bagatellisieren die Betroffenen ihr Schicksal sogar selbst. „Wir sind auch groß geworden.“ Diesen Satz habe ich oft gehört. Heute würde man sagen: Sie waren schwerst traumatisiert.

Als ich Kind war, haben wir oft sonntags morgens lange gefrühstückt. Und meine Eltern haben vom Krieg erzählt. Ich war begierig auf ihre Geschichten. Ich wollte es genau wissen: „Wie war das, als ihr jung wart?“ Es waren schaurige Geschichten. Aber ich wollte sie hören. Und sie erzählten bereitwillig. Wie von großen Abenteuern. Mein Vater, wie er als junger Soldat Menschen tötete und meine Mutter, wie sie den Bombenkrieg im Ruhrgebiet durchlitt. Ständig in Angst. Über Jahre. Einmal durfte sie während eines Angriffs nicht mit in den Luftschutzkeller. Sie hatte Scharlach und musste allein in der Wohnung bleiben. Da war sie zehn. Ihre Mutter hatte sie alleingelassen. So war das halt, meinte sie. Schließlich musste die Mutter sich um die beiden jüngeren Brüder kümmern. Sie wurden dann irgendwann evakuiert, nach Pommern. Von dort mussten sie 1945 zurück fliehen. Was sie auf der Flucht alles erlebt und gesehen hat, das kann sie bis heute niemandem erzählen. Da erging sie sich in Andeutungen. Und meine kindliche Phantasie malte sich den Rest eben aus. Ich fühlte mit ihr, ihre Angst und ihre Panik.

So geht es vielen, deren Eltern Kriegskinder waren. Sie hörten Geschichten, für die sie viel zu jung waren. Und die meisten haben tief verinnerlicht: Iss deinen Teller leer und wirf kein Brot weg. Manche träumen die Albträume ihrer Eltern oder fühlen sich irgendwie schuldig oder leben mit dem Gefühl, dass es kein Zuhause gibt.

So etwas nennt man mit einem doppelten Fremdwort „transgenerationale Traumatisierung“. Wenn also die seelischen Verletzungen wie eine Kettenreaktion an die nächste Generation weitergegeben werden, und diese dann wiederum an die nächste und so weiter. Das gilt übrigens nicht nur für Kriege, sondern auch für andere Traumata wie sexuelle Gewalt oder Vernachlässigung. Ich frage mich: Muss das so sein? Und wie kommt man aus dieser Kette raus?

Nicht alle, die den Krieg als Kind erlitten haben, erzählen ihren Kindern davon. Viele schweigen. Nicht aus Sturheit, sondern weil sie ihre Gefühle abgespalten haben, weggedrängt in die tiefsten Kammern ihres Unterbewusstseins. So konnten sie das Schreckliche vergessen. Unterschwellig ist aber alles noch da. Wenn sie dann selbst Mütter und Väter wurden, hatten viele Mühe, ihren Kindern Nähe und Wärme zu geben. Die abgespaltenen Gefühle von Angst und Trauer landeten bei den Kindern. Kinder spüren eben wie ein Seismograph, was die Eltern fühlen. Und auch, was sie nicht fühlen und verdrängt haben.

Eine Frau erzählte mir: „Ich wurde nie in den Arm genommen. Meine Eltern waren immer irgendwie unterkühlt. Sie konnten ihre Gefühle nicht zeigen. Ich habe ihre Liebe so vermisst. Ich selbst laufe wie mit angezogener Handbremse durchs Leben. Und dann dieses Gefühl, dauernd dafür verantwortlich zu sein, dass es meinen Eltern gut geht. Gerade jetzt, wo sie alt sind.“ Sie ist hin- und hergeworfen. Manchmal kommt sie sich vor, als müsste sie ihre Eltern bemuttern. Und dabei bekommt sie so wenig zurück. Es ist ein Drama. Und es wird von einer Generation an die nächste weitergegeben.

Ein ähnliches Phänomen wird in der Bibel beschrieben. Nach einem vernichtenden Krieg sitzen die Juden in der Verbannung in Babylon. Über mehrere Generationen hinweg. Der Prophet Hesekiel schreibt ihnen: „Es gibt bei uns ein Sprichwort. Die Väter haben saure Trauben gegessen. Und den Söhnen sind davon die Zähne stumpf geworden. Also: Die Kinder müssen für die Taten ihrer Eltern büßen. Gott aber sagt: ‚Das soll nicht mehr gelten. Denn alle Menschen gehören mir. Die Eltern gehören mir genauso wie die Kinder. Und jeder ist für seine Taten selbst verantwortlich.‘“

Für mich heißt das: Unsere Eltern gehören Gott. Und unsere Kinder übrigens auch. Gott unterbricht die Kette der Traumatisierung. Es muss nicht so sein, dass den Kindern die Zähne stumpf werden, wenn die Eltern saure Trauben essen. Die Kinder müssen an den Eltern nicht gut machen, was andere ihnen angetan haben. Die Eltern müssen ihr Leid selbst tragen, nicht die Kinder. Die Kinder können das auch gar nicht. Selbst dann nicht, wenn sie erwachsen sind. Darum können sie sich innerlich von ihren Eltern trennen. Und das dürfen sie auch. Gleich nach der Musik geht’s darum, wie das gehen könnte – sich trennen und doch liebevoll bleiben.

Manche ehemaligen Kriegskinder erzählen ihre Geschichte nicht ihren Kindern, sondern erst ihren Enkelkindern. Auch für die ist das eine große Belastung. Eine Frau beschreibt, dass sie sich wie ein seelischer Müllschlucker für ihren Großvater vorkommt. Aber das will sie nicht mehr. Sie will ihn aus ihrem Leben werfen. Am Ende schreibt sie: „Hau ab, Opa – und mach dein Ding allein.“ (www.forumkriegsenkel.de) Das klingt hart. Aber für viele ist das wichtig: Sich von den Eltern oder eben auch von den Großeltern abgrenzen. Sich von ihnen lossagen. Ihnen die Verantwortung für ihr Leben zurückgeben. Der Schriftsteller Bernhard Schlink spricht von „Elternaustreibung“. Damit meint er: Sich nicht mehr von dem Schicksal der Eltern besetzen zu lassen. Nicht besessen sein von ihrem Leiden und ihren inneren Dämonen. Das muss nicht immer so hart geschehen.

Ein Freund erzählte mir von seiner Mutter. Sie musste aus Ostpreußen fliehen. Da war sie dreizehn. Ihre Geschichte gleicht der vieler Flüchtlinge. Auch sie hat Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu zeigen. Sie hat gut für ihre Kinder gesorgt. Aber wirkliche Wärme gab es nicht. Und niemals hat sie ihren Kindern gesagt, dass sie sie liebt. Der Freund war Mitte 30, als er sich zum ersten Mal in seinem Leben ein Herz fasste und ihr sagte: „Ich hab dich lieb, Mama.“ Ein dicker Kloß saß ihm dabei im Hals. Aber er wollte das doch mal sagen und fand, dass es jetzt an der Zeit wäre. Die Mutter hat verlegen geantwortet: „Ich hab dich auch lieb.“ Ich habe den Freund gefragt: „Wie kommt es, dass du das deiner Mutter sagen konntest.“ Er meinte: „Ich habe mich lange Zeit von meiner Familie distanziert. Ich gehörte irgendwie nicht dazu. Meine Art zu leben war so anders. Aber dann dachte ich: Jetzt bin ich frei genug. Jetzt kann ich sagen, was ich fühle.“

Ja, denke ich. So kann es gehen. So können wir die Kette der Traumatisierung unterbrechen: Sich weit entfernen von den seelischen Verletzungen der Eltern. Verstehen: Wir können unsere Eltern nicht heilen. Das wird Gott tun. Dann entsteht neue Nähe – vielleicht. Jedenfalls kann ich inzwischen ab und zu mit gutem Gewissen einen Teller nicht leer essen oder tatsächlich mal ein Stück Brot wegwerfen.

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