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Tag-Kind - Nacht-Kind. Über sexuelle Gewalt, Scham und Heilung
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Tag-Kind - Nacht-Kind. Über sexuelle Gewalt, Scham und Heilung

Doris Joachim
Ein Beitrag von Doris Joachim, Evangelische Pfarrerin, Referentin für Gottesdienst im Zentrum Verkündigung, Frankfurt

Als Kind habe ich oft ein Lied gehört, auf einer Schallplatte mit Rudolf Schock: „Immer nur lächeln, immer vergnügt.“ Es ist aus der Operette „Land des Lächelns“  von Franz Lehar. Ein chinesischer Prinz singt es. Lächeln, trotz Sehnsucht und Schmerz. Niemand soll sein wahres Gesicht sehen. Denn:  „Wie’s da drinnen aussieht, geht niemand was an.“ Ich konnte das Lied auswendig, jedenfalls den Refrain. Und ich fand das ganz normal – diese Trennung von außen und innen. Viele finden das normal. Es ist Teil unserer Kultur. Und selbst da, wo Menschen sich geradezu exhibitionistisch entblößen wie in manchen Fernsehshows heutzutage, zeigen sie nicht ihr wahres Selbst, nicht wirklich.

Außen und innen. Manchmal klafft das bei einem Menschen weit auseinander. Das Innen wird verborgen. Bloß nicht dran rühren. Nichts davon zeigen. Zu peinlich. Es ist die Scham, die das Innen verbirgt. Und das Verrückte ist, dass manche Menschen ihr Inneres sogar vor sich selbst verbergen. Einfach nicht merken, was in ihnen vorgeht. So wie bei der US-Amerikanerin Marilyn van Derbur. Sie hatte sich quasi in zwei Personen geteilt. Ein Tag-Kind und ein Nacht-Kind. So heißt auch der deutsche Titel des Buches, das sie geschrieben hat.

Marilyn van Derbur war einmal Miss America. Das war 1958, und sie war 20 Jahre alt. Eine schöne, kluge, witzige Frau mit einer perfekten Familie. Der Vater – charmant, wohltätig, ein Künstler und erfolgreicher Geschäftsmann. Die Mutter – schön, beliebt, humorvoll. Vier hübsche brave Töchter. Die ganze Familie fest verankert in der High Society von Denver in Colorado. Nachts ging der Vater zu seiner Tochter und missbrauchte sie. Er fing an, als sie fünf Jahre alt war und hörte auf, als sie 18 war. Ihrer ältesten Schwester ging es genauso. Die Mutter wusste es und schwieg.  Nicht ein einziges Mal hat sie ihre Töchter vor der Gewalt des Vaters beschützt.

Marilyn beschreibt in dem Buch ihren Lebensweg. Das süße lebhafte Tag-Kind weiß nichts von dem verzweifelten Nacht-Kind. Sie hat es vollkommen abgespalten. Ihre Fassade ist perfekt. Auch später, als Erwachsene, hat sie sich immer unter Kontrolle. Sie lächelt und gibt sich vergnügt. Kaum ein Foto, auf dem sie nicht lächelt. Das ist ihre Aufgabe als Miss America und dann später auch in ihrem Beruf als Fernseh-Moderatorin und Motivationsrednerin. Innen drin aber herrscht  das reinste Chaos. Panikattacken, körperliche Schmerzen und das Gefühl, ein durch und durch schlechter Mensch zu sein. Ihr wahres Gesicht hält sie für hässlich. Und sie ist überzeugt: Wenn die Menschen wirklich wüssten, wer sie innen drin ist, würden sie sie verachten.

Ich lese dieses Buch und bin immer wieder fassungslos. Diese perfekte Tarnung! Diese Trennung von Innen und Außen über viele Jahre hinweg! Zwischendurch schaue ich mich um. Menschen in meiner Nähe. Was zeigen sie von sich? Wer sind sie? Wer sind sie wirklich? Und wie ist das mit mir. Wie viel Fassade trage ich mit mir herum, um meine Inneres zu verbergen. Was lächele ich alles weg? Macht das nicht jeder? Es ist anstrengend, sich zu verbergen. Und was für eine Erleichterung, wenn ich zu einer Freundin sage: „Du, es gibt Tage, da glaube ich, nichts zu können. Und ich kann mich selbst nicht leiden.“ Und sie dann sagt: „Das kenne ich auch!“ Warum nur erzählen wir einander so wenig von dem, wie’s da drinnen aussieht? Warum diese Scham?

Viele Jahre ignoriert Marilyn van Derbur das missbrauchte Nacht-Kind in sich. Sie kann sich an die sexuelle Gewalt durch ihren Vater nicht erinnern, bis sie 24 Jahre alt ist.  Als sie dann ihr Nacht-Kind kennen lernt, hasst sie es. Scham und Schuldgefühle überwältigen sie. So geht es vielen, die sexuelle oder auch andere Gewalt und Vernachlässigung erlebt haben. Vom Kopf her weiß Marilyn zwar, dass das Unsinn ist. Aber ihr Gefühl und ihr Nacht-Kind sagen was anderes. Das hält sie über 20 Jahre lang aus! Mit 45 Jahren bricht sie dann vollständig zusammen. Sie kann nicht mehr lächeln. Ihr Inneres beginnt nach außen zu drängen. Ihr Körper reagiert nun auch mit Lähmungen. Aber es ist der Beginn ihrer seelischen Heilung.

Zur Heilung gehört, dass sie ihr wahres Gesicht zeigt und von ihrem Geheimnis erzählt. Menschen, denen sie vertraut. Freundinnen, Verwandte. Und sie merkt: Sie wird angenommen und geliebt, gerade weil sie sich öffnet. Aus Verletzlichkeit, die gefühlt und gezeigt wird, kann Kraft wachsen. Aber es bleibt ein Risiko. Das merkt Marilyn van Derbur, als sie mit ihrer Mutter spricht. Die glaubt das zuerst nicht. Später behauptet sie, nichts gewusst zu haben. Es geht ihr nur um ihr eigenes Ansehen, nicht um das Wohl ihrer Tochter. Bis zu ihrem Tod hält sie an der Fassade fest und glaubt, eine gute Mutter gewesen zu sein.

Der Vater war längst verstorben, als Marilyn den Missbrauch öffentlich macht. Da ist sie 53 Jahre alt. „Öffentlich“ heißt bei einer ehemaligen Miss America und prominenten Fernsehmoderatorin: Schlagzeilen in allen Zeitungen, Fernsehberichte, Interviews. Viele sind bestürzt. Manche glauben ihr nicht oder halten sie für eine wichtigtuerische Nestbeschmutzerin. Aber viele Frauen und Männer sind tief berührt. Endlich spricht jemand aus, was sie selbst kennen: Sexuelle Gewalt mit all der Scham und dem Gefühl, schmutzig zu sein und unwürdig. Für eine Frau, die über 50 Jahre ihre Lebens alles daran gesetzt hatte, ihr Geheimnis zu wahren, ist das ein unglaublich mutiger Schritt. Wie schafft man sowas?

In ihrem Buch macht Marilyn van Derbur deutlich: Um den Schmerz des Nacht-Kindes zu fühlen und das, was in einem ist, zu akzeptieren – dazu braucht man jemanden, der einen liebevoll ansieht. Das schafft man nicht allein. Solch einen Menschen fand sie als junge Frau in einem presbyterianischen Pfarrer. Er war der erste, den sie mit ihrem Dauerlächeln nicht täuschen konnte. Bei ihm begann sie,  ihre Tarnung abzulegen und etwas von ihrem Inneren zu zeigen, langsam, sehr langsam. Der zweite Mensch war ihr Ehemann, der sie mit unendlicher Geduld durch ihre Krisen begleitete. Das war ihre Rettung.

Aber etwas musste sie auch dafür tun. Sie musste um Hilfe rufen. Das tat sie nicht direkt, sondern sehr indirekt. So wie eine Frau in der Bibel, von der ich erzählen möchte. Sie ist seit 12 Jahren blutflüssig, das heißt: Sie blutet nicht nur in den Tagen der monatlichen Menstruation, sondern dauernd. Kein Arzt kann helfen. Mit der Dauerblutung gilt sie obendrein noch als unrein. Woher das kommt, wird in der Bibel nicht erzählt. Viele Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, haben auch Menstruationsprobleme. Wie auch immer. Sie sucht Hilfe bei Jesus. Sie trifft ihn, wie er mitten in einer Menschenmenge steht. Nun stellt sie sich aber nicht einfach vor Jesus und sagt: „Ich blute seit 12 Jahren. Ich bin ein tief verletzter Mensch. Und ich halte mich selbst für ein Stück Dreck.“ Niemals würde sie das tun. Dafür schämt sie sich zu sehr. Nein, sie wählt einen indirekten Weg. In der Masse der Leute berührt sie von hinten unauffällig Jesu Gewand. Bloß nicht ansprechen. Auf keinen Fall öffentlich. Es ist ein stummer Hilferuf. Aber Jesus merkt es. Er bemerkt sie. Vielleicht ist er der erste Mann, der sie bemerkt und liebevoll ansieht, ohne sie zu verletzen. Und er fordert sie auf zu sprechen. Sie zittert. Sie hat Angst. Aber sie schüttet ihm ihr Herz aus. Und ist geheilt.

Was hier so verdichtet erzählt wird, ist normalerweise ein langer Prozess der Heilung, wie bei Marilyn van Derbur. Aber so kann es gehen: Um Hilfe rufen. Leise ein Gewand berühren.  Nicht die Fassade einfach einreißen. Sondern langsam abbauen. Stein für Stein. Das wahre Gesicht zeigen. Über die Angst sprechen, über Depressionen, über das Versagen, über die Sehnsucht nach Liebe.  Eben über das, was im Inneren verborgen ist. Und dann: Liebe zulassen. Sich lieben lassen von Gott und den Menschen, die einem nahe sind. Denn das wahre Gesicht ist liebenswert und schön.

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