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Das Böse überwinden – Zum Prozess in Norwegen gegen Anders Breivik
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Das Böse überwinden – Zum Prozess in Norwegen gegen Anders Breivik

Doris Joachim
Ein Beitrag von Doris Joachim, Evangelische Pfarrerin, Referentin für Gottesdienst im Zentrum Verkündigung, Frankfurt

„Er habe aus Güte gehandelt, nicht aus Boshaftigkeit.“ Das sagt Anders Behring Breivik, der Mann, der am zweiundzwanzigsten Juli letzten Jahres siebenundsiebzig Menschen getötet hat. Jetzt steht er vor Gericht und versucht, sich zu rechtfertigen. Er meint, er hätte die Bombe in Oslo zünden und die Jugendlichen auf der Insel Utoya erschießen müssen. Denn er wollte Norwegen angeblich vor islamischer Überfremdung und  einem Bürgerkrieg bewahren.

Aus Güte Menschen töten. Wie die meisten Menschen bin ich fassungslos. Wie kann ein Mensch nur so böse sein und dann auch noch glauben, er diene einem höheren Zweck! Oder ist er verrückt? Die Psychiater sind sich da nicht einig. Das mit der Güte glaubt ihm keiner. Aber mich treibt die Frage um: Gibt’s das? Gibt es den durch und durch bösen Menschen? Jetzt wird nach Ursachen geforscht. Die Kindheit beleuchtet. Wie wird ein Mensch so? Wir fragen uns das immer, wenn ein schreckliches Verbrechen passiert. Was sind das für Menschen, die wie in Winnenden oder Erfurt Amok laufen oder kaltblütig Menschen töten wie die Zwickauer Terrorzelle. Was geht in Kindermördern vor? Und überhaupt: Was geht in Menschen vor, die andere Menschen quälen, körperlich und seelisch? Da gibt es viele Vermutungen. Und doch: Wirklich erklären lässt es sich nicht. Nicht jeder, der als Kind Vernachlässigung und Gewalt erlebt hat, wird böse.

Im Osloer Gerichtssaal sitzt Trond Henry Blattmann. Er hat am zweiundzwanzigsten Juli seinen siebzehn Jahre alten Sohn Torjus verloren. Viele Hinterbliebene regen sich auf, dass Breivik zu viel Raum für seine Tiraden gegeben werde. Blattmann aber sagt: „Das Gericht muss doch beurteilen können, was er ist.“ Was ist ein Massenmörder? Der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau hatte damals bei der Trauerfeier für die Opfer des Amoklaufes in Erfurt gesagt: „Was immer ein Mensch getan hat: er bleibt ein Mensch.“ Ein Mensch mit einer Geschichte und einem Namen. Oft wird in der Berichterstattung der Name eines Täters nicht genannt. Da spricht man von der Killerbestie oder dem Monster. Die Bibel spricht davon, dass jeder Mensch ein Ebenbild Gottes sei. Gilt das auch für Menschen, die Böses tun?

Es ist schwer, in einem Menschen, der andere quält oder sogar tötet, den Menschen zu sehen. Aber das ist ganz wichtig:  Wir verlieren etwas, wenn wir Menschen, die Böses tun, als Unmenschen oder Bestien ansehen. Wir verlieren unsere eigene Menschlichkeit. Vor einiger Zeit haben wir das in einer 12. Klasse im Religionsunterricht diskutiert. Welche Rechte soll z.B. ein Kindermörder haben? Warum denn nicht foltern? Warum keine Rache? Die Jugendlichen diskutierten heftig und kontrovers. Und viele meinten: Natürlich hätte die Mutter eines getöteten Kindes alles Recht der Welt, den Mörder zu töten. Die Jugendlichen haben sich mit den Opfern identifiziert. Und ich habe sie gut verstanden. Das habe ich ihnen auch gesagt. Und dann: „Wenn ich eine Mutter wäre, deren Kind getötet wurde – mein Hass auf den Täter wäre groß. Und vielleicht hätte ich den Impuls, den Mörder zu ermorden. Aber ich wäre froh für jeden, der mir dann in den Arm fällt und mich daran hindert. Ich will nicht vom Opfer zur Täterin werden.“

Ein junger Mann, der das Grauen auf der Insel Utoya überlebt hat, sagt während des Prozesses über den Massenmörder: „Er soll nicht unsere Vorstellung davon verändern, was richtig ist. Darum soll der Prozess ordentlich ablaufen.“ Wenn man einen Gewalttäter als Menschen behandelt, dann achten wir damit auch unsere eigene Menschenwürde.

Aber es bleibt die Frage vom Anfang: Gibt es den durch und durch bösen Menschen? Und: Ist einer der so Schreckliches tut, ein Ebenbild Gottes? Da gerate ich ins Stottern. Mich erschreckt die Gewalt, zu der Menschen fähig sind. Sie erschüttert nicht nur mein Weltbild. Sie erschüttert mich. Ich möchte an das Gute im Menschen glauben. Ich möchte glauben, dass Gott die Menschen und die Welt gut geschaffen hat. Ich weiß, dass das naiv ist. Ich muss nur die Nachrichten einschalten oder mit offenen Augen die Menschen – und ja – auch mich selbst ansehen, um zu merken, dass Menschen Böses tun.

Wir kriegen das Böse nicht aus der Welt. Aber ich will mich damit nicht abfinden. Vielleicht hilft ein Gedanke von Martin Luther weiter: Er unterscheidet zwischen dem Sünder und der Sünde. Also zwischen dem Menschen und seiner bösen Tat. Und er sagt: Gott liebt den Sünder, aber nicht die Sünde. Er liebt den Menschen, aber nicht sein böses Tun. Gilt das auch für Anders Breivik? Gilt das für Menschen, die ihre Verbrechen noch nicht mal bereuen? Auch hier gerate ich ins Stottern. Es ist eine Zumutung zu sagen: Ein Verbrecher ist ein Ebenbild Gottes. Aber kann es denn sein, dass Gott Menschen geschafften hat, die nicht seine Ebenbilder sind?

Eins ist mir gewiss: Kein Mensch kommt als Verbrecher auf die Welt, sondern als Ebenbild Gottes. Und ich glaube: Er bleibt es, auch wenn er dieses Bild verzerrt und übermalt mit Hass und Gewalt. Denn hinter der Bosheit steht ein Mensch, der die Liebe nicht kennt und Güte nie gelernt hat. Das entschuldigt ihn nicht, keineswegs. Denn als Ebenbilder Gottes sind wir frei geschaffen, Gutes oder Böses zu tun. Darum sind wir verantwortlich. Und doch kann die Unterscheidung zwischen der Person und der Tat helfen, hinter der Fassade des kaltblütigen Verbrechers einen Menschen zu sehen, dessen Würde wir achten müssen. Ich gebe zu: Mir fällt das schwer. Und ich verstehe den Hass und die Rachegedanken der Angehörigen der Opfer solcher Verbrechen. Umso mehr bewundere ich die Haltung der Norweger, von der in diesen Tagen immer wieder berichtet wird. Sie setzen um, was mehrmals in der Bibel steht: Vergeltet nicht Böses mit Bösem. (v.a. Röm 12,17)

Wenn man Böses nicht mit Bösem vergelten will – was macht man dann stattdessen? Zwei Dinge schlägt die Bibel vor: Rächt euch nicht selbst, sondern überlasst das Gott. Und: Überwindet das Böse mit Gutem. Menschliche Gerichte müssen über Verbrecher urteilen und sie einsperren. Ein endgültiges Urteil über das Leben eines Menschen können sie nicht fällen. Das wird Gott tun. Darum ist aus christlicher Sicht die Todesstrafe ausgeschlossen. Wie Gott über einen Verbrecher richten wird, das weiß ich nicht. Manchmal male ich mir was aus und stelle mir furchtbare Strafen für die Bösen vor. Denen soll es bei Gott bloß nicht zu gut gehen. Dann merke ich, dass das nur kurzfristig weiterhilft, sozusagen als emotionale Entlastung. Besser ist es, das Urteil über einen Menschen wirklich Gott allein zu überlassen. Damit komme ich auf eine Distanz zum Bösen. Ich halte es mir vom Leib. Solche Distanz ist wichtig, um mich wieder dem Gutem und dem Leben zuzuwenden. Wenn ich in Rachephantasien gefangen bleibe, hat ein Täter weiterhin Macht über mich.

Und wie überwindet man das Böse mit Gutem? Mich haben die Norweger beeindruckt. Es war bei der Trauerfeier einer der muslimischen Jugendlichen. Sie war auf der Insel Utoya erschossen worden. Ihre Mutter hat gesagt: „Die Antwort ist nicht: mehr Hass, sondern mehr Liebe.“ Mehr Liebe. Und sie meint wohl die Liebe untereinander, die eine ganze Gemeinschaft ansteckt. Solche Liebe schafft einen Nährboden, auf dem das Böse nicht Fuß fassen kann. Am sechsundzwanzigsten April haben die Norweger gezeigt, wie das gehen kann. Vierzigtausend Menschen haben sich da in Oslo versammelt und gesungen. Sie sangen ein Kinderlied. Ein Lied, das der Massenmörder Breivik hasst, weil es angeblich Kinder marxistisch beeinflusst. Über Facebook haben sich die Menschen verabredet, um sich das Lied zurück zu erobern. Der Refrain lautet: „Zusammen werden wir, Brüder und Schwestern, als kleine Kinder des Regenbogens und der grünen Erde leben.“ Sie sangen und schwenkten Rosen in vielen Farben. So kann die Antwort mit Liebe aussehen: Wenn Menschen auf das Böse nicht mit Bösem reagieren, sondern mit Singen.

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