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Das Orangenmädchen
Bildquelle: pixabay

Das Orangenmädchen

Dr. Paul Lang
Ein Beitrag von Dr. Paul Lang, Diakon und Lehrer für Latein, Musik und Religion in Amöneburg

Wenn Weihnachten vor der Tür steht, ist viel zu erledigen. Aufräumen und Einkaufen, einen Christbaum aussuchen und schmücken, die Krippe aufstellen. Das Auswählen und Kaufen von Geschenken macht mir dabei meistens viel Freude.
Gerne blättere ich dazu in den Theaterprogrammen unserer Region. Spannende Geschenkideen gibt es da manchmal. Im letzten Jahr war das „Orangenmädchen“ eine davon, ein Musical im Stadttheater Gießen. Die Story dazu stammt von Jostein Gaarder. Er hat „Sofies Welt“ geschrieben, eine Philosophiegeschichte im Gewand eines Romans. Das machte mich neugierig auf sein „Orangenmädchen“.
Hauptperson ist der 15jährige Georg. Seine Begeisterung gehört der Astronomie. Gerade hat er in der Schule ein Referat über das Hubble-Weltraumteleskop gehalten. Da erhält er einen Brief. Einen höchst ungewöhnlichen Brief – und das in mehrfacher Hinsicht. Seine Großeltern finden ihn eher zufällig in einem alten Kinderwagen, Jahre nachdem er geschrieben worden ist. Ungewöhnlich ist vor allem, dass sein Vater der Verfasser ist. Er hat ihn 11 Jahre zuvor geschrieben. Kurz darauf ist er gestorben. Als für Georgs Vater Gewissheit wurde, dass er das Aufwachsen seines Sohnes nicht miterleben würde, schrieb er ihm diesen Abschiedsbrief. Lang ist er geworden, spannend und nachdenklich, vor allem aber tiefsinnig und unvergleichlich schön.
Die Zeilen seines Vaters inspirieren den 15jährigen zu einer tiefen Reflexion über das Dasein. Georg stellt fest: „Viele Menschen leben ihr ganzes Leben ohne die Erkenntnis, dass sie im leeren Raum schweben. Hier unten gibt es zu viel, was nur beschwert… Wir gehören auf diesen Planeten. Das will ich gar nicht in Frage stellen. Wir sind ein Teil der Natur des Planeten.… Ich meine nur, dass uns das nicht daran hindern sollte, etwas weiter zu blicken als bis zu unserer eigenen Nasenspitze.“
Georg, der vierjährige Sohn, den sein Vater beim Schreiben des Briefes vor Augen hat, ist inzwischen auf dem Weg, ein junger Mann zu werden. Der Verlust seines Vaters, aber auch dessen Begeisterung für Astronomie und Wissenschaft haben ihn geprägt. Das Erstaunliche ist, scheint mir, dass der kleine Georg durch Wissenschaft und die leidvolle Erfahrung des Sterbens seines Vaters nicht melancholisch geworden ist. Im Gegenteil: Er kann sich für die Schönheit des Daseins begeistern und sich den vielen offenen und nicht beantwortbaren Fragen des Daseins stellen.
Als der faszinierende Blick des Hubble-Weltraumteleskops in ferne Galaxien und die persönlichen Briefzeilen seiner eigenen Vergangenheit zusammentreffen, beginnt Georg das Leben zu begreifen. Er erkennt es als Zusammenspiel von Dingen, die er versteht mit Dingen, die sein Verstehen übersteigen. Weil dieses Zusammenspiel nichts Bedrohliches hat, sieht Georg es als Ganzheit wie ein Märchen. Genau so ist ein Märchen nämlich: Es ist getragen von der Überzeugung, dass alles gut wird. Märchen verbinden in guter Weise Begreifbares mit dem, was menschliches Begreifen übersteigt. Sie sind gläubige Weltsicht.
Georg aus Gaarders Orangenmädchen macht mir Mut, diesen und jeden neuen Tag als neues Kapitel in einem Märchen zu beginnen. Ich selbst darf darin mitspielen.

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