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Brüche und Risse
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Brüche und Risse

Dr. Ursula Schoen
Ein Beitrag von Dr. Ursula Schoen, Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt
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Im Nebenzimmer kracht es laut. Ich ahne es schon. Hier ist wieder Geschirr zu Bruch gegangen. Dann öffnet sich langsam die Tür. Die kleine Tochter sagt: „Es tut mir Leid, Mama! Die Tassen sind mir so aus der Hand gerutscht.“ Mir fällt es schwer, einfach zu sagen: „Ok, das passiert halt!“ Ich schweige und gehe mit ins andere Zimmer. Ich sehe den Scherbenhaufen und hole den Handfeger.

Die geklebte Tasse - ein Ärgerniss

Aus den Scherben ragt eine Tasse heraus. Sie ist noch fast intakt, nur am Rand ist ein Stück herausgebrochen. Die Tochter meint vorsichtig: „Die können wir doch noch mal kleben.“ Alles andere geht in den Mülleimer. Wir kleben die Tasse. Sie sieht eigentlich ziemlich gut aus. Trotzdem, jedes Mal, wenn ich sie in der Hand hatte, hat mich die Klebespur geärgert. Wenn ich aus der Tasse trinke, sehe ich sie immer sofort: Die graue Linie - sie zieht sich deutlich durch das blaue Muster am Rand. Die Schönheit der Tasse hat einen sichtbaren Riss bekommen. Sie ist gewissermaßen für immer gezeichnet.

Kleine und große Brüche gehören zum Leben

Die Tochter ist inzwischen groß geworden. Weitere Tassen und Teller sind zu Bruch gegangen. Sie sind aus unserem Haushalt verschwunden. Und beim Geschirrbruch ist es nicht geblieben. Es hat noch andere größere Brüche gegeben. Wege haben sich getrennt, Hoffnungen wurden enttäuscht, Beziehungen haben sich verändert. Menschen sind aus meinem Leben verschwunden, die mir nahestanden. Die Tasse mit der grauen Klebespur ist immer noch da.

Die geklebte Tasse - heute eine Erinnerung

Heute ärgert mich diese Tasse nicht mehr. Ich finde sie sogar schön. Ich mag die Spur des Klebers. Manchmal schaue ich sie fast liebevoll an. Die Klebespur gehört zu ihr. Ich drehe und wende die Tasse und betrachte sie von allen Seiten. Man kann aus ihr seinen Tee genießen wie aus jeder anderen Tasse auch. Sie ist Tasse geblieben. Der Riss erinnert mich daran, dass wir sie damals vor dem Mülleimer gerettet haben.  

Wie die Spur des Klebers zu dieser Tasse gehört, sind Brüche auch Teil meines Lebens geworden. Wie vielleicht in jedem Leben. Ganz egal, ob andere sie verursacht haben oder ich selbst dafür verantwortlich war. Sie sind da und sie bleiben da, immer wieder verwirrend und schmerzhaft. Ich wäre gerne oft so schön und makellos wie eine neue Tasse.

Der liebevolle Blick Gottes

Und dann habe ich meine geklebte Tasse in der Hand und schaue sie von allen Seiten an. Dazu fällt mir ein Satz aus der Bibel ein: „Von allen Seiten umgibst Du mich, Gott und hältst deine Hand über mir.“ Dieser Satz beschreibt Gottes Blick. Es ist ein liebevoller Blick. Gott blickt auf mich mit allen meinen Seiten. Brüche gehören dazu und große Leistungen, Schmerzen und Glück. Gott sieht das Ganze. Er fügt die Teile meines Lebens zusammen. Gott bewahrt mich in seiner Liebe. Ja, mir gefällt sie, diese Tasse.  

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