Ihr Suchbegriff
Das Selbstverständliche: Eine notwendige Erinnerung
Bildquelle: Pixabay

Das Selbstverständliche: Eine notwendige Erinnerung

Dr. Peter-Felix Ruelius
Ein Beitrag von Dr. Peter-Felix Ruelius, Leiter ZB Christliche Unternehmenskultur & Ethik bei der BBT-Gruppe, Koblenz

In diesem Jahr begeht die Musikwelt den 100. Geburtstag von Leonard Bernstein. Der Komponist der West Side Story war auch ein begnadeter und inspirierender Dirigent. Für viele unvergessen: seine Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie im Dezember 1989 in Berlin. Wolfgang Seeliger, der damalige Assistent Leonard Bernsteins, erzählt in einem Interview davon, dass Bernstein den Text der berühmten „Ode an die Freude“ änderte. Nicht: Freude, sondern Freiheit ließ er Solisten und Chor singen. „Freiheit schöner Götterfunken“. Und Seeliger erzählt, wie berührt die Musiker davon waren, als Bernstein ihnen den Sinn seiner Textänderung erklärte. Er war zutiefst bewegt von den Ereignissen des Herbstes 1989. Die Mauer war gefallen; Freiheit war auf einmal greifbar und real. Für Millionen von Menschen. Ein Gänsehautmoment. Kann man solche Augenblicke vergessen? Auch große Momente haben ihre Halbwertszeit. Freiheit erscheint selbstverständlich. Ob Reisefreiheit oder Freiheit der Presse, Freiheit der Meinung oder der Berufswahl. Ist die Freiheit, die wir in unserm Land genießen, noch etwas Besonderes? Im persönlichen Leben ist es manchmal ähnlich: Die großen Momente, die „Gänsehaut-Momente“ gehen schnell in den Alltag über: Eine gelungene Prüfung, der Einzug in ein neues Zuhause, die Hochzeit. Bedeutendes wird schleichend selbstverständlich und geht im normalen Alltag unter. Nur in seltenen Momenten passiert es einmal, dass ich mich in meinem Leben umschaue und denke: Wie gut hast du es. Meine eigene Erinnerungskultur besteht in einer sehr einfachen Übung – egal ob am Morgen oder am Abend: eine Minute Anerkennung für das Selbstverständliche. Für das Haus, in dem ich wohnen kann, für Gesundheit, für das gute Glas Wein und eine vernünftige Arbeit, schließlich für die Menschen, die mich lieben. Das macht nicht immun gegen Krisen oder gegen das, was nicht gelingt. Aber es trainiert den Blick dafür, das selbstverständliche Gute nicht nur hinzunehmen, sondern es anzuerkennen. Einmal Atemholen und auf das Leben schauen. Ganz einfach sagen: „Läuft. Gut hab ich’s“. Oder eben: „Freiheit schöner Götterfunken“ - wenn mir danach ist.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren