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Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben

Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben

Anne-Katrin Helms
Ein Beitrag von Anne-Katrin Helms, Evangelische Pfarrerin, Erlösergemeinde Frankfurt-Oberrad

Mit Sprichwörtern ist es so eine Sache. Sie sind oft geronnene Vorsichtsmaßnahmen. In ihnen drücken sich Lebenserfahrungen aus, und nicht immer nur gute. Manchmal kommen sie betulich daher. Es geht darum, mit dem zufrieden zu sein, was man hat. In knackiger Kürze setzen sie sich in unserem Hirn fest. Eins hat sich in meinem festgesetzt, nämlich: “Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.”

Ein Kind hätte das Sprichwort nie erfunden. Als ich klein war, konnte für mich ein Tag nicht lang genug sein. Ich habe ihn schon beim Aufstehen bejubelt und war traurig, wenn er vorüber war. So viel von dem, was mir Spaß macht, wollte ich noch in ihn hineinpacken. Von Erwachsenen hatte ich den Eindruck, dass sie abends froh waren, wenn der Tag zu Ende war.

Nun bin ich erwachsen und ich verstehe jetzt besser: Es kommt schon mal vor, dass die Last des Tages mich schon beim Aufstehen niederdrückt. Wer weiß, was da auf mich zukommen wird?

“Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben!” Das ist ein skeptisches Sprichwort. Nicht zu früh fröhlich sein. Lieber auf Nummer sicher gehen. Sonst muss ich abends meine Freude vielleicht noch revidieren, wenn der Tag in seiner Summe mir doch eher nicht geglückt ist.

Das Sprichwort warnt mich davor, den Tag vor dem Abend zu loben. Es will damit meinem Übermut wehren. Ich verstehe seine Skepsis. Aber ich mag sie nicht. Für mich hört sie sich so an, als solle ich abends eine Liste erstellen: Unter Plus stehen alle geglückten Dinge des Tages. Unter Minus alles, was mir missraten ist. Und abends wird summiert. Und abgewogen, ob ein Lob oder ein Dank sich lohnt und angemessen ist.

Ich lege lieber gleich los mit einem Dankeschön. “Gott sei Dank!” – um 9 Uhr, wenn ich leicht grippig einen Arzt gefunden habe, der mir helfen kann. “Gott sei Dank!” – um 12 Uhr, weil die Schüler, die ich unterrichte, mich verstanden haben. “Gott sei Dank!” – um 16 Uhr: der Frau aus der Nachbarschaft geht es wieder besser.

Nicht immer fällt es leicht, zuversichtlich zu sein. “Du sollst den Tag nicht vor dem Abend loben” – Meinetwegen. Aber den Tag wenigstens am Abend loben, das könnte schon drin sein. Da schiebe ich meine Griesgrämigkeit beseite und bin dankbar dafür, dass es doch “ging”, vielleicht sogar besser als gedacht.

Ich könnte so eine Art Schichtwechsel vornehmen: Wenn ich schon nicht Herrin werde über meine Skepsis am Morgen, könnte ich abends aus den Überschüssen des Tages etwas für den morgigen Tag abzweigen.

Gott am Abend Dank sagen. Nicht nur für ein besseres Einschlafen, sondern auch für einen zuversichtlichen Beginn des kommenden Tages.

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