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Trauergesang und Hoffnungsmusik
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Trauergesang und Hoffnungsmusik

Beate Hirt
Ein Beitrag von Beate Hirt, Senderbeauftragte der katholischen Kirche beim hr, Frankfurt
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Eigentlich sollte heute Pfarrer Stefan Wanske die hr2 Morgenfeier sprechen. Ich vertrete ihn, weil überraschend seine Mutter gestorben ist. Ich denke heute besonders an ihn und an alle, die um einen lieben Menschen trauern. Heute ist Allerheiligen. Das ist in der katholischen Kirche traditionell nicht nur der Gedenktag der Heiligen, sondern es ist vor allem der Tag, an dem an die Verstorbenen gedacht wird. Ich denke heute an meine Mutter, die schon viele Jahre tot ist, aber auch an Freundinnen und Freunde, die schon gestorben sind. Wahrscheinlich geh ich auf den Friedhof und stelle ein Grablicht auf, viele Menschen tun das heute an Allerheiligen. In Corona-Zeiten wird es leider keine großen gemeinsamen Gottesdienste in den Kirchen und auf den Friedhöfen geben können. Aber: Wir können aneinander denken, auch miteinander telefonieren vielleicht oder uns Nachrichten schicken. Es tut gut, mit der Trauer nicht alleine zu sein.

Gut tut mir in der Trauer und Traurigkeit immer auch: die Musik. Es gibt in der christlichen Kultur wunderbar tröstliche Musik gerade auch für Trauerzeiten, für Beerdigungen und Requien. Sie lässt mich weinen, aber auch: wieder Hoffnung schöpfen. Denn mein christlicher Glaube sagt mir ja: Mit dem Tod ist nicht alles vorbei.

Eine der Trauergesänge, die in den letzten Jahren immer mehr Bedeutung für mich bekommen hat, ist das „In Paradisum“. Es ist eine ganz einfache Musik, oft wird sie beim Gang zum Grab gesungen, a cappella, ohne jedes Instrument. „Zum Paradies mögen Engel dich geleiten.“ Sie geht zurück auf einen lateinischen Wechselgesang aus dem Mittelalter. Wenn dieser Gesang erklingt, während der Sarg zum Grab getragen wird, kommen mir oft die Tränen. In diesem kurzen, schönen Gesang steckt so viel Trauer, aber auch viel Trost. „Zum Paradies mögen Engel dich geleiten, die heiligen Märtyrer dich begrüßen und dich führen in die heilige Stadt Jerusalem.“

Musik 1: Antiphon „In Paradisum“ (CD: Chant. Music for paradise, The Cistercian Monks of Stift Heiligenkreuz, Universal Music Classics, Track 1, ca. 1.20 – 2.00, insgesamt ca. 0.40)

Trauermusik und Erinnerung

Dieser alte christliche Gesang zur Grablegung: Er hat auch in diverse neuere Requien Eingang gefunden: in das von Maurice Duruflé zum Beispiel oder in das berühmte „War Requiem“ von Benjamin Britten. Es scheint so, als ob beim Trauern und Klagen auch die Verknüpfung mit alten Zeiten hilft. Wir fühlen uns als Trauernde oft so allein und einsam – wer kann unseren Schmerz schon verstehen? Vielleicht hilft es da, sich mit seiner Klage einzuschwingen in die Klagen so vieler Menschen vor mir. Die Trauer um die Toten ist schon immer ein großes Menschheitsthema, und seit jeher ist es auch ein großes Thema in der Musik. Nirgendwo sonst ist die Musik so sehr kulturelles Gedächtnis. Kaum zählen kann man die Vertonungen von Requien und Exequien. Wir treten mit ihnen quasi ein in einen großen Klagechor, der die Menschen über die Jahrhunderte hinweg verbindet in ihrer Trauer um liebe Menschen. 

Auch für mich gehören Requien zu den Musikstücken, die mich am meisten bewegen. Sie zählen -  auch, wenn das komisch klingen mag – zu meinen Lieblingsstücken. Das Requiem von Johannes Brahms zum Beispiel. Ich mag es wirklich sehr und habe es auch schon selbst im Chor gesungen. Und es erinnert mich auch an einen Verstorbenen: einen Chorfreund, der mit 45 Jahren an Krebs gestorben ist. Das Brahms-Requiem war das letzte Stück, das er mit uns gesungen hat. Wenn ich die CD mit dem Requiem auflege, dann denke ich an ihn, ich erinnere ich mich an Begegnungen, ich höre ihn wieder singen und reden, all das ist quasi aufgehoben in dieser Musik. Trauermusik ist ganz besonders: erinnernde Musik. 

Aber in diesem Brahms-Requiem steckt natürlich noch mehr Erinnerung: All die vertonten Bibelstellen wollen mich auch erinnern an die religiöse Hoffnung, mit der ich groß geworden bin und die mich trösten will. Zum Beispiel diese wunderbaren Zitate aus dem Johannesevangelium und aus dem Propheten Jesaja, die Brahms vertont und verknüpft hat: „Ihr habt nun Traurigkeit, aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen“ (Johannes 16,22) und „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ (Jesaja 66,13a).

Musik 2: „Ihr habt nun Traurigkeit“ aus dem Requiem von Johannes Brahms (CD: Brahms, Ein Deutsches Requiem, Berliner Philharmoniker / Berliner Rundfunkchor, Simon Rattle, Track 5, ca. 4.15 bis Schluss 7.25 – insgesamt ca. 3.10).

Blick in eine andere Welt

Das Besondere an solch wunderbarer Trauermusik – wie dem Brahms-Requiem - ist für mich: Ich kann mit ihr beides: Ich kann mich den Tränen hingeben, kann an die Toten denken und den Schmerz zulassen, der dabei aufkommt. Aber ich kann mich von dieser Musik eben auch trösten lassen. Wie einen seine Mutter tröstet, so tröstet mich Gott – und er tröstet mich vielleicht gerade mittels solcher Musik. Wenn sie vom Moll ins Dur wechselt, wenn sie wunderschöne Melodien hervorbringt, dann klingen auch in meinem Innern plötzliche neue Töne. Eine Hoffnung breitet sich aus, Hoffnung auf Wiedersehen und Wiedersehensfreude. Und diese Hoffnung erreicht eben nicht nur meinen Kopf und Verstand, sie wird nicht nur mit Worten gepredigt – mit solcher Musik rührt sie auch an mein Herz. Da, wo tief drinnen die Trauer sitzt, da kann solche Requiems-Musik mir Trost spenden.

Trost vor allem dadurch, dass sie sagt: Es ist nicht alles vorbei mit dem Tod. „Ich will euch wiedersehen“ – Musik wirft einen Blick in eine andere Welt, sie macht mir Hoffnung auf ein neues, anderes Leben. Für die Toten, um die ich trauere, aber auch für mich selbst. Solchen Trost durch die Musik erlebe ich vor allem in Requien, aber nicht nur. Manchmal spür ich sie sogar: in Weihnachtsmusik. Wenn ich das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach höre, dann muss ich seit ein paar Jahren besonders an eine verstorbene Freundin denken. Als sie mit 49 Jahren an Krebs starb, da hat ihre Familie ins Sterbebildchen ein Zitat aus dem Weihnachtsoratorium aufgenommen, einen Choral, den sie sehr geliebt hat: „Ich will dich mit Fleiß bewahren“. Darin heißt es: „Mit dir will ich endlich schweben, voller Freud, ohne Zeit, dort im andern Leben.“ 

Musik 3: Johann Sebastian Bach, Choral „Ich will dich mit Fleiß bewahren“ aus dem Weihnachtsoratorium (CD: Weihnachts-Oratorium, Gächinger Kantorei / Bach-Collegium Stuttgart, Helmuth Rilling, CD 2, Track 10, 1.11).

Hoffnung für das eigene Sterben

Johann Sebastian Bach: Für mich spendet er in seiner Musik Trost wie kaum ein anderer. Immer wieder lädt er mich auch dazu ein, beim Trauern an meinen eigenen Tod zu denken. In jedem Requiem und auch in jeder Passion, die wir hören, steckt ja dieser Gedanke: Nicht nur dieser Tote da musste sterben. Auch ich werde sterben müssen, irgendwann einmal, auch ich bin vergänglich. Darüber zu sprechen, ist schwierig. Aber davon zu hören oder auch zu singen, in tröstlicher Musik, das, finde ich, geht besser. 

Mitten in der Matthäus-Passion zum Beispiel erklingt im Choral dieser berühmte Text von Paul Gerhardt: „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir, wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür“. Christlich gedacht ist diese Bitte natürlich genau richtig mitten in der Passion Jesu: Sein Sterben will mir Mut machen fürs eigene Sterben: Gott wird mich in meiner Todesstunde nicht alleine lassen, heißt das. Er wird mich „kraft seiner Angst und Pein“ aus meinen Ängsten reißen – und mich hinüberführen in ein neues Leben. Davon kündet Johann Sebastian Bach immer wieder. Auch ganz am Ende seiner Johannes-Passion geht der Blick vom Sterben Jesu weiter zum eigenen Sterben. Und deshalb wird nach dem großartigen Schlusschor „Ruhet wohl, ihr heiligen Gebeine“ die Musik plötzlich noch einmal ganz innerlich und persönlich. Und für die ganze Gemeinde und für jeden Einzelnen, der zuhört, heißt es im Schlusschoral: „Ach Herr, lass dein lieb Engelein am letzten End die Seele mein in Abrahams Schoß tragen!“ Auch in dieser Musik steckt die wunderbare Vorstellung, die schon die alte Antiphon „In Paradisum“ erfüllt hat: Nicht Gevatter Tod wird irgendwann an unsere Tür klopfen, wenn es ans Sterben geht. Sondern: Ein Engel wird uns abholen und sagen: Fürchte dich nicht! Und er wird uns sanft hinüberführen in die andere Welt, in der es keine Schmerzen und kein Leid mehr gibt, in der wir uns bergen können, glücklich wie in Abrahams Schoß. 

Musik 4: Johann Sebastian Bach, aus dem Schlusschoral aus der Johannespassion „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“ (CD: J.S. Bach, Johannespassion, Collegium Vocale Gent / Orchestre de La Chapelle Royale, Paris / Philippe Herreweghe, CD 2, Track 19, bis ca. 1.10).

Hoffnung ohne Worte

Bei Bach oder auch bei Brahms knüpft sich die Hoffnung auf eine andere Welt oft an Worte – an die von Paul Gerhardt oder natürlich auch an die der Bibel. Und natürlich beziehen die Choräle der Passionen und das Deutsche Requiem auch durch diese Worte viel Kraft. Wenn sich Hoffnungsworte mit Hoffnungstönen verbinden, dann berührt das auf gleich mehreren Ebenen meine Wahrnehmung, und es erreicht mich ganz besonders. Aber Trauermusik ist für mich trotzdem nicht nur an Worte gebunden. Es gibt wunderbare Instrumentalstücke, bei denen mir die Tränen kommen, bei denen mich große Traurigkeit packt – und ich mich zugleich wundersam getröstet fühle. Samuel Barbers „Adagio“ zum Beispiel ist so ein Werk. Auch Werke von Arvo Pärt berühren mich auf diese Weise – er hat übrigens auch einige Stücke „In Memoriam“ anderer Menschen geschrieben, in Erinnerung an Benjamin Britten etwa. Die knappe halbe Stunde Morgenfeier reicht nicht aus, um alle Requien und alle instrumentale Trauermusik einzuspielen, die mir beim Thema „Abschied“ in den Sinn kommen und etwas bedeuten. 

Als Beispiel für die Hoffnungsmusik ohne Worte möchte ich das Cellokonzert von Antonin Dvorak zum Klingen bringen. In ihm steckt quasi auch ein diskretes, verdecktes Requiem. Während Dvorak an diesem Konzert arbeitet, erfährt er nämlich von der schweren Erkrankung seiner Schwägerin, bald danach stirbt sie. Die ältere Schwester seiner Frau war einst auch seine Jugendliebe – und so klingt vor allem das Adagio in diesem Cellokonzert wie ein letztes, sehr emotionales „Lebe wohl“. 

Musik 5: Antonin Dvorak, aus dem Adagio aus dem Konzert für Violoncello und Orchester (CD: Dvorak, Cellokonzert / Symphonie Nr. 8, Pierre Fournier, Berliner Philharmoniker, George Szell, Track 2, bis ca. 1.30).

Musik als Geleit

Mit der Musik und durch die Musik trauern – das ist wirklich etwas, was sich durch die Jahrhunderte zieht und fast allgemein menschlich ist. Eine der eindringlichsten Trauermusiken ist ziemlich genau zweihundert Jahre vor diesem Cellokonzert von Dvorak entstanden. 1695 komponiert Henry Purcell die „Funeral Music on the Death of Queen Mary“, Begräbnismusik also für die verstorbene britische Königin, ein paar Monate später wird sie auch zu seinem eigenen Begräbnis erklingen. Diese „Funeral Music“ habe ich vor langem schon einmal selbst im Chor gesungen. Und ich weiß noch, wie sie mich damals berührt und auch fasziniert hat, diese seufzende Melodik und die fremdartigen Harmonien, die viele Chromatik. Es ist wirklich einer der dichtesten und berührendsten Trauermusiken, die ich kenne.

Der letzte Chorsatz in dieser „Funeral Music“ richtet sich direkt an Gott: „Thou knowest, Lord, the secrets of our hearts“, „Herr, du kennst die Geheimnisse unseres Herzens“. Und dann geht die Bitte an diesen Gott, der uns so gut kennt, uns deswegen oder trotzdem aufzunehmen bei sich in der letzten Stunde. „O God most mighty, O holy and most merciful saviour“, „O heiligster Gott, O heiliger und barmherziger Retter.“ Die Bitte wird so dringlich, so hartnäckig vorgebracht, dass man in ihr auch Gewissheit hören könnte: die Gewissheit, dass Gott die Singenden erhört - und dass solche Musik wirklich Geleit geben kann hinein in eine andere Welt.

Musik 6: Henry Purcell, “Thou knowest, Lord, the secrets of our heart” aus der “Funeral Music on the Death of Queen Mary” (CD: Purcell, Full Anthems & Organ Music, Music on the Death of Queen Mary Oxford Camerata / Jeremy Summerly, Track 20, 2.30).

Gewissheit auf Auferstehung

Manchmal denke ich: Vielleicht hören wir auch deshalb heute so gerne Trauermusiken vergangener Jahrhunderte, weil in ihnen diese Gewissheit aufscheint. Diese Gewissheit: Mit dem Tod ist nicht alles vorbei, der Tod ist nur ein Übergang in eine neue Welt, Gott erwartet uns im Sterben. Das ist ja eine Gewissheit, die wir heute kaum mehr so aufbringen können. An ein Leben nach dem Tod glauben nur noch wenige. Und doch ist dieser Glaube etwas, was die Trauer um einen verstorbenen Menschen verändert – und auch die Trauer über das eigene Sterbenmüssen. Ich zweifle manchmal auch. Ich bin mir nicht immer sicher, dass da wirklich etwas ist am Horizont. Aber meistens glaube ich daran. Ich glaube: Der Tod ist ein Übergang in eine andere Welt, in ein neues Leben in Fülle. Bei allem Schmerz und aller Trauer um die Menschen, die ich mit zu Grabe getragen habe: Ich hoffe auf ein Wiedersehen und auf ein Leben danach.

Die Hoffnung auf Auferstehung: Auch sie kann ich gerade in der Musik spüren und erahnen. Besonders, wieder einmal, in der Musik von Johann Sebastian Bach. In seiner h-Moll-Messe im Credo. Wenn dort bei den Worten „gekreuzigt, gestorben und begraben“ die Musik immer trauriger und leiser wird. Und dann der laute, überschwängliche Jubel losbricht im Orchester und im Chor: „Et resurrexit“, „er ist auferstanden am dritten Tag:“ Dann kann ich das glauben: Auch wir werden einst aufstehen wie Christus auferstanden ist.

Musik 7: Johann Sebastian Bach, aus „Crucifixus“ und „Et resurrexit“ aus der Messe in h-Moll (CD: J.S. Bach, Messe in h-Moll, Gächinger Kantorei Stuttgart / Freiburger Barockorchester / Hans-Christoph Rademann,  Track 5, ca. 1.55 – 3.00 und Track 6, 3.38 oder fade out).

Literaturhinweis: Peter Gülke, Musik und Abschied, Kassel 2015.

 

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