hr4 ÜBRIGENS
hr4
Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Wieder werden wie ein Kind

Wieder werden wie ein Kind

„Alleine machen“, sagt das Kind, gut zwei Jahre alt. Es steht noch wacklig auf den Beinen, muss sich am Tisch festhalten und will Holzklötze aufeinander legen. Ich möchte helfen, erlebe aber heftige Ablehnung und höre das: „Alleine machen“. Eigentlich gelingt das nicht. Eine Hand am Tisch, die andere an den Bauklötzen – das wird schwer. Mehr als drei Klötze passen nicht, dann wird alles schief und fällt um. Egal. Das Kind fängt wieder von vorne an. Alleine machen ist wichtig. Ich kann das, bin schon groß. Ihr anderen schaut einfach nur zu und staunt über mich. Das Kind kann kaum auf die Tischplatte schauen und die bunten Klötze sehen. Aber alleine machen muss sein. So wertvoll fühlt sich das Kind.

„Alleine machen“ sagt die alte Dame, über neunzig Jahre alt. Sie sitzt im Rollstuhl. Ihre Sinne sind verwirrt. Schon länger. Zum Singen einmal die Woche kommt sie gerne. In der großen Runde fällt ja nichts auf. Sie hat ein Liederbuch in den Händen und sucht Seite 12. Ich will helfen. Soll ich aber nicht. Alleine, sagt sie bestimmt und blättert von Seite 2 bin Seite 12 ganz langsam durch. Als sie die Zwölf sieht, strahlt sie. Sie hat es geschafft. Alleine. Bei Zahlen geht es noch mit den Sinnen. Sonst ist die Erinnerung nicht weg, aber durcheinander. Manchmal erkennt sie jemanden, strahlt, meint aber einen anderen. Viele helfen ihr gerne. Auch beim Blättern. Doch da sagt sie: Nein, alleine.

Wie ähnlich wir wieder werden dem, der wir einmal waren. Hilflos und doch stolz; klein und doch wichtig; wacklig auf den Beinen und zugleich festen Willens. „Alleine machen“ ist wertvoll. Es zeigt: Ich kann schon etwas, ohne Hilfe; oder: ich kann noch etwas. Habe mich noch nicht aufgegeben; bin nicht verloren in einer mir fremden Welt. Wer alt wird und seine Sinne verliert, wird wieder ähnlich dem Kind, das man war. Braucht Hilfe, aber nicht zu viel. Braucht Achtung trotz Verwirrung und will wertvoll bleiben. Auch bei geringsten Fähigkeiten. Wie man Kindern hilft, ein eigener Mensch zu werden, hilft man Alten, ein eigener Mensch zu bleiben. Und sieht auf sie nicht mit Ungeduld, sondern mit dem Gefühl des Menschen, der sagt: Wer wie ein Kind ist, kommt ins Himmelreich.