hr4 ÜBRIGENS
hr4
Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Tante Hilde und die Liebe

Tante Hilde und die Liebe

Meine Tante Hilde kann nicht mehr so, wie sie will. Die Beine, das Herz. Alles wird langsamer. Dabei war sie flott auf den Beinen. Und flink mit dem Herzen. Von ihr habe ich gelernt, was Liebe ist. Vor allem Freundlichkeit zu anderen, möglichst keine bitteren Worte und - Hilfe, wo es geht. Tante Hilde war im Frauenkreis der Gemeinde. Man half anderen, die nicht zurechtkamen mit ihrem Geld oder sonst im Leben. Man besuchte die Alten im Heim. Keiner sollte vergessen werden, nur weil er schwach oder krank war oder nicht mehr bei Sinnen. Tante Hilde hat alles gerne gemacht, viele Jahre lang. Es füllte sie aus. Das ist vorbei. Jetzt freut sie sich, wenn jemand an sie denkt, sie anruft oder besucht. Meine Liebe ist klein geworden, sagt sie. Das war schlimm, anfangs. Es ist bitter, wenn der Geist mehr will, als der Körper kann.

Eines Tages, sagt Tante Hilde, kommt eine junge Frau vorbei und bringt ihr etwas aus der Apotheke. Jung ist die, mit langen, dunklen Haare, frisches Gesicht und mitten im Leben. Beneidenswert in ihrem weißen Kittel. Als Tante Hilde die Tüte auspackt, ist die Angestellte aus der Apotheke schon weg. In der Tüte ist mehr als Medizin, auch eine Postkarte mit einem schönen Bild. Man sieht Sonne, Wolken, einen Berg mit Schnee und einen Spruch. Der heißt: Schon kleine Liebe zeigt den großen Himmel. Tante Hilde stutzt einen Moment, räumt die Medizin weg und schaut noch einmal auf die Postkarte: Schon kleine Liebe zeigt den großen Himmel. Sie ahnt: Der Spruch meint mich. Wahrscheinlich Zufall, dass gerade dieser Spruch in der Tüte liegt. Andererseits gibt es keine Zufälle. Tante Hilde reibt sich die Hände und verdrückt ein paar Tränen. Kleine Liebe, sagt sie vor sich hin, das bin ich. Viel geht nicht mehr; viel weniger als früher. Sie nimmt die Karte mit dem Spruch und steckt sie an den Küchenschrank. Dann seufzt sie vor sich hin. Das war mein Trost, erzählt sie später. Und ist es bis heute. Schon kleine Liebe zeigt den großen Himmel. Das ist so richtig, sagt sie, und schaut jetzt beim Essen oft auf die Karte. Der liebe Gott will nur das von mir, was ich auch kann. Viel kann man nicht mit müden Beinen und schwachem Herzen. Trotzdem: für den Himmel sollte es reichen.