hr4 ÜBRIGENS
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Mecke, Norbert

Eine Sendung von

Dekan, Melsungen

Splitteralarm

Splitteralarm

Ich höre die Geschichte nicht gerne! Schließlich komme ich nicht so gut dabei weg. Er saß tief. Er saß fest. Der Splitter in meiner Ferse. Auch wenn´s sonst nicht meine Art war: Ich habe meinen Vater angeschrien. Mir war egal, was man dachte. Er war drinnen – der Splitter. Und ich hatte als Sechsjähriger den Entschluss gefasst, dass nur geschulte, promovierte Mediziner die Schwere der Verletzung angemessen einschätzen und therapieren konnten. Mein Vater aber war kein Arzt! Und es war auch nicht das, was ihn später wurmte, sondern wie ich kurz darauf beim „Onkel Doktor“ mucksmäuschenstill den Pinzetten-Eingriff über mich ergehen ließ. Splitter- Entfernung vom Fachpersonal. Wie laut wäre ich daheim geworden, wenn ein ganzer Balken zu entfernen gewesen wäre!

„Wer hat schon einen Balken entfernen zu lassen?“, fragen Sie sich vielleicht. „Die meisten!“, glaube ich. Zumindest spricht Jesus davon. Und der stellt oft treffende Diagnosen.

„Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?“ (Lukas 6, 41) Manchmal machen wir ja einen ähnlich großen Aufstand über die kleinen Splitter der Schwächen unserer Mitmenschen, wie ich als Kind mit Blick auf meine Ferse: Wir kennen ihre Achillesverse, ihre verwundbaren Punkte, und regen uns darüber auf.

Mit uns selbst sind wir meist gnädig – und übersehen dabei den Wald eigener Fehler vor lauter Bäumen.

„Ihr macht „Splitteralarm“ bei andern und seid dabei betriebsblind für Eure Ecken und Kanten!“, will Jesus sagen. Und mir bleibt der Aufschrei dagegen im Hals stecken. Er hat ja recht mit seinem geschulten Blick. Er ist ja die Koryphäe, der ich Heilung zutraue: Was die Splitter der anderen angeht, die ich getrost ihm überlassen kann. Was meine Balken angeht, die ich manchmal wie ein Brett vorm Kopf und Herz habe.

Ob er deshalb am Kreuz hängt, damit ich sehe, dass er diese Balken trägt – erträgt?! Jedenfalls glaube ich, dass er die Schwere unserer Verletzungen einschätzen und therapieren kann! Das macht mich gelassen!