Das Purgatorium oder das Fegefeuer
Morgen sind es zwei Wochen her, seit ich auf der Rückfahrt aus einer kurzen Urlaubswoche in Tirol auf dem Heimweg war. Noch einmal eine Woche ausspannen und zur Ruhe kommen, bevor mit den Monaten November und Dezember zu Hause in meiner Pfarrei eine bewegte Zeit auf mich zukommt. Jetzt ist diese Zeit wieder vorbei. Doch ein paar Stunden Urlaub möchte ich mir auf der Heimfahrt noch gönnen, deshalb plane ich einen Zwischenstopp in München ein.
Eine Stippvisite in der Großstadt
Ein Spaziergang über den Marienplatz und den Viktualienmarkt und eine Kleinigkeit essen. Das lässt für einen Moment noch einmal in den Hintergrund treten, dass in wenigen Stunden der Alltag wieder Einzug halten wird.
In München angekommen, habe ich Gott sei Dank relativ unproblematisch einen Parkplatz in der Tiefgarage am Viktualienmarkt ergattert. Über die Treppe wieder nach oben ans Tageslicht gekommen, werde ich von dem bunten Markttreiben schnell in den Bann gezogen: Das „pralle Leben“, denke ich. Es wird mir schnell fast ein wenig zu viel.
Ruhe inmitten des Großstadtrummels
Da kommt die Pfarrkirche zum Heiligen Geist, die direkt am Rande des Viktualienmarktes liegt, gerade recht. Ich betrete die Kirche. Eine typische Barockkirche: überall Engel- und Heiligenfiguren, die Decke bemalt, den Himmel sozusagen auf die Erde geholt. Die vollendete Kirche, die Gott lobt und preist. Wiederum „pralles Leben“ - doch diesmal im Himmel. Auf einmal verbindet sich für mich das Treiben draußen auf dem Markt und mit dem künstlerisch Dargestellten in der Kirche. Irgendwie fühle ich mich in diesem Raum angenehm umfangen. Ist es mein Gespür für Gottes Gegenwart? Ich glaube, sein guter Geist will mich in diesem Moment Geborgenheit spüren lassen und mir Kraft geben.
Nachdem ich eine Weile in der Bank gesessen habe, mache ich es wie zahlreiche andere Menschen, die in diesem Moment mit mir im Kirchenraum sind. Ich stehe auf und langsamen Schrittes erkunde ich das Kirchenschiff, vorbei an Seitenaltären, Opferlichtständern und Beichtstühlen.
Entdeckungsreise im Kirchenraum
Ich schaue mich um und plötzlich lässt mich ein Bild - ein Gemälde, das mir ins Auge fällt - innehalten. Es wirkt hier im Raum ungewohnt im Vergleich zur übrigen barocken Kunst. Offensichtlich ein Gemälde von einem zeitgenössischen Künstler oder einer Künstlerin, das hier seinen Platz bekommen hat.
Zu sehen ist eine in mystisches Licht getauchte Szene, die in einem offensichtlich flachen See spielt. Im Vordergrund ist ganz klar das Ufer zu sehen. Mehrere Menschen sind nackt im Wasser hockend dargestellt: Zuerst mit ganz klaren Konturen eine Frau, die mit ihren Händen offensichtlich den Grund des Sees ertastet. Eine andere ihr Spiegelbild im Wasser anschauend, eine weitere im Hintergrund, sich das Gesicht waschend. Je mehr man versucht, in die Weite des Bildes zu schauen, umso undeutlicher und nebliger wird es.
Zunächst kann ich mit dem Bild wenig anfangen. Ich beginne wieder, den ganzen Kirchenraum an diesem Ort wahrzunehmen, und erst dann merke ich, dass das Bild offensichtlich nicht zufällig unter einem weiteren Bild angebracht wurde: Eine barocke Darstellung der Kreuzigung Jesu - umgeben von Engeln und unter dem Kreuz Maria und der Lieblingsjünger Johannes, die sich durch ihre Blicke mit dem Gekreuzigten in Verbindung setzen. Auf einmal wird mir bewusst, was hier beabsichtigt wurde.
Musik
Wie wir uns auf den Himmel einstellen können
Hätte man in der Barockzeit eine ähnliche Installation vornehmen wollen, dann wäre unter dem Kreuz vielleicht ein Gemälde mit Menschen in Feuerflammen, dem sogenannten Fegefeuer, dargestellt. Viele solche Bilder, gerade aus der Barockzeit, muten grauselig an und thematisieren eher unsere menschliche Vorstellung von Hölle, als dass sie deutlich machen, dass es darum geht, den Menschen nach seinem irdischen Tod auf den Himmel vorzubereiten.
Das Problem für mich und für Menschen unserer Zeit ist in diesem Fall unsere deutsche Sprache. Sie hat aus dem traditionell in lateinischer Sprache genannten "Purgatorium", was Reinigungsort bedeutet, das Fegefeuer gemacht hat. Später erfahre ich, dass das Bild, das mich inzwischen in seinen Bann gezogen hat, von der Künstlerin Brigitte Stenzel stammt und tatsächlich den Titel „Purgatorium“ trägt. Auf einmal finde ich es genial, es unter dem Kreuz Jesu zu platzieren. Für uns Christen ist die Bereitschaft Jesu zur Kreuzigung Ausdruck seiner grenzenlosen Liebe zu uns Menschen. Nach biblischem Zeugnis bekommt selbst der Verbrecher, der mit Jesus gekreuzigt wird und sich ihm zuwendet, die Zusage, noch am gleichen Tag mit Jesus im Himmel zu sein.
Waren wir wirklich alle so brav?
Im weiteren Nachdenken über das Bild und den Himmel, verstanden als das endgültige Sein des Menschen in Gottes Gegenwart, kommt mir wieder einmal ein Lied in den Sinn, das oft auf Fastnachtsveranstaltungen gesungen wird: „Wir kommen alle, alle in den Himmel, weil wir so brav sind.“ Die Frage, ob wir alle, alle - genau so brav, wie wir gerade sind - in den Himmel kommen können, kann ich nicht beantworten. Denn auf jeden Fall würde es heißen, dass es im Himmel genauso weitergeht wie auf der Erde. Und da ist ja bekanntermaßen nicht immer alles absolut in Ordnung, um es gelinde auszudrücken.
Dann erinnere mich dazu an die Predigt meines inzwischen verstorbenen Heimatpfarrers vor bestimmt fast 40 Jahren. Sie ist mir immer noch in Erinnerung. Er zitierte damals auch das Lied: „Wir kommen alle, alle in den Himmel, weil wir so brav sind.“ Und dann rief er mit energischer Stimme: „Das ist falsch!“ - und fügte den Satz an: „Wir kommen alle, alle in den Himmel, weil Gott so gut ist!“
Und kommen wir wirklich alle in den Himmel?
Heute, an Allerseelen, nimmt die Kirche alle Verstorbenen in den Blick, besonders jene, die nach menschlichem Ermessen in ihrem Leben die Liebe Gottes nicht erfahren und in ihren Lebensentscheidungen nicht umsetzen konnten. Das Gebet für die Verstorbenen, die liebevoll hergerichteten Gräber und entzündeten Kerzen und die Feier der Heiligen Messe für die Verstorbenen sollen ihnen zeigen, wie liebenswert sie uns sind und dass die Liebe Gottes noch unendlich viel größer ist.
Das Purgatorium ist ein Bild dafür, dass dem Menschen diese Gelegenheit geschenkt wird, alles Böse und Schlechte „abzuwaschen“. All das, was den Menschen zeitlebens gehindert hat, mit dem liebenden Gott in Verbindung zu sein und das Leben auf ihn hin auszurichten. Das Bild „Purgatorium“ will, so meine ich, von hinten - vom nebligen Hintergrund aus - nach vorne betrachtet werden, wo das Dargestellte ganz klare Konturen hat.
Musik
Wie wir uns vom Bösen lossagen, um in Gottes Reich zu kommen
Jetzt schaue ich noch einmal das Bild an, inzwischen eine Reproduktion, die ich mir mit nach Hause genommen habe. Ich entdecke, dass der mit klaren Konturen gezeichnete Mensch im Vordergrund, der mit den Händen den Boden des Sees ertastet, gar nicht mehr so tief im Wasser kauert. Er ist vielmehr bereit, sich aufzurichten und ans Ufer zu gehen.
Ich bin mir sicher, in diesem Bild eine für mich kostbare Botschaft erhalten zu haben: Der Mensch darf sich im See der Barmherzigkeit Gottes - so nenne ich ihn jetzt - reinigen. Schritt für Schritt wird der auf dem Bild dargestellte Mensch mehr fähig, sich in der spiegelnden Wasseroberfläche, wieder selbst ins Gesicht und in die Augen schauen zu können. Vielleicht - nein, ich bin mir sicher - so tief, dass sich darin die Liebe dessen spiegelt, der ihn gewollt und geschaffen hat.
Auf der Autobahn zu Gott
Als ich an jedem Montag im Chorumgang der Heilig-Geist-Kirche weitergehe, fällt mir noch ein weiteres Bild ins Auge, das ich jedoch sofort erkenne: Es ist der von der Kirche jüngst heiliggesprochene italienische Jugendliche Carlo Acutis. In seinem kurzen Leben von nur 15 Jahren war er, ein ganz normaler Jugendlicher, besonders ausgezeichnet, durch die Selbstverständlichkeit, mit der er den Glauben lebte und diesen bezeugte. Für ihn war besonders die regelmäßige Beichte und die Heilige Kommunion der Weg, fortwährend Gottes Liebe zu erfahren und sich mit IHM zu verbinden. Mir fällt in diesem Moment wieder ein Satz ein, den Carlo gesagt haben soll, nämlich, dass die Eucharistie, die Heilige Kommunion, für ihn die „Autobahn in den Himmel“ sei.
Ich muss jetzt wieder auf die Autobahn, denke ich, um nach Hause zu kommen. Also wieder hinaus ins pralle Leben. Ein letzter Gedanke noch an das Gemälde „Purgatorium“: So sehr es mich beeindruckt hat, was nach dem Tod kommt, können wir nur vermuten. Oder wir können versuchen, es durch Bilder, in die wir Glaubenstraditionen hineinmalen, zu verstehen.
Ich möchte Gott schon in diesem Leben begegnen und mein Leben auf IHN ausrichten, so wie Carlo Acutis. Immer dann, wenn ich Gottes Nähe erfahre, möchte ich Zeugnis davon geben, so wie ich es jetzt Ihnen gegenüber getan habe.
An jenem Montag war ich noch nicht wieder auf der Autobahn nach Hause, da wurde ich per Telefon in eine seelsorgerische Ausnahmesituation gerufen. Im Nachgang weiß ich, dass ich an jenem Mittag von Gott nicht zufällig in das Nachdenken über seine Liebe, die den Menschen auch noch im Tod erreicht, geführt wurde.
Und da ist es wieder, das Gespür, das ich jetzt auch Ihnen wünsche - nämlich von Gott ganz und gar umgeben zu sein.